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Sensitivity Readings: eine vielfältige Leser*innenschaft mitdenken

Unser Projekt macht.sprache. veranlasste uns, über sensibles Übersetzen nachzudenken. Aber auch innerhalb einer Sprache gibt es viele Gründe dafür, einen sensiblen Ausdruck anzustreben. Sensitivity Readings unterstützen Autor*innen dabei, eine vielfältige Leser*innenschaft mitzudenken.   

Immer mehr Verlage und Autor*innen entscheiden sich, Sensitivity Readings durchführen zu lassen. Diese werden in der Regel im Überarbeitungsprozess eines Manuskripts vorgenommen und bedeuten, dass der Text auf potenzielle Diskriminierung geprüft wird – auf diskriminierende Begrifflichkeiten, stereotype Darstellungen von Personen (-gruppen), Ländern oder Kontinenten, unbedachte Logikfehler, die für einige Leser*innen zu Mikroaggressionen werden können, usw. Das Sensitivity Reading ermöglicht es Autor*innen, ihren Text aus der Perspektive einer anders positionierten Person zu sehen. Welche Hinweise sie annehmen, entscheiden die Autor*innen aber im Anschluss selbst.

Hadija Haruna-Oelker erwähnt zu Beginn ihres kürzlich erschienenen Sachbuchs Die Schönheit der Differenz: Miteinander anders denken, dass sie, weil nicht alle Perspektiven von ihr selbst repräsentiert werden, drei verschiedene Sensitivity Readings durchführen lassen hat, die den Blick jeweils auf eine andere Diskriminierungsform gelegt haben. Das Verfassen von Texten ist das Handwerk der Journalistin und Autorin Haruna-Oelker. Sie erklärt ihren Leser*innen, dass sie ihr Werkzeug verantwortungsvoll nutzen, diversitätssensibel darstellen und beschreiben sowie sich ästhetisch und authentisch ausrücken möchte.

Nun beschäftigt sich Haruna-Oelker in ihrem Buch explizit mit Diskriminierung und einem konstruktiven Umgang mit Differenz, da wundert es nicht, dass sie eine Befürworterin von Sensitivity Readings ist. Andere Stimmen sprechen sich deutlich dagegen aus. Erst kürzlich machte sich beispielsweise eine Glosse in der FAZ über zu große Empfindsamkeit lustig. Die unterschiedlichen Meinungen in Bezug auf Sensitivity Readings überraschen wenig, denn die Debatte um diese Praxis knüpft direkt an ein bereits bekannteres Thema an: diskriminierungsfreie Sprache, d.h. genderinklusive oder genderfreie Ausdrucksweisen, den Verzicht auf rassistische oder ableistische Begriffe.

Nach meinem Verständnis zeigen Autor*innen, die sich für ein Sensitivity Reading entscheiden, Bereitschaft zur Empathie für andere und eine Offenheit, sich kritisch mit der eigenen Perspektive auseinander zu setzen. Es geht dabei teilweise um verletzte Gefühle von einzelnen Leser*innen, aber vielmehr noch um das Anerkennen, dass eigene Sprachhandlungen gesellschaftliche Normen, die zu struktureller Unterdrückung beitragen, aufrechterhalten oder sie anfechten können.

Wie machtvoll Sprache ist, betonen Schriftsteller*innen, Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen schon lange. Kübra Gümüşay erklärt in Sprache und Sein, wie Sprache Dinge und auch Menschen festschreibt. Gümüşay spricht von den Benannten und den Unbenannten. Lann Hornscheidt drückt es in Sprachhaltung zeigen! ganz ähnlich aus und hebt die gewaltvolle Dimension noch stärker hervor: „Gewalt beginnt in den meisten Fällen mit Worten. Zuerst werden Menschen in Gruppen eingeteilt. Das wird sprachlich gemacht: ‚Wir‘ und ‚die Anderen‘. Dann werden diese Unterschiede bewertet: Wir, die Normalen, und die Anderen. Die Komischen, Seltsamen, Auffälligen, Nicht-Passenden.“ Wer dazu beitragen möchte, Diskriminierung zu reduzieren, kann bei der eigenen Sprachverwendung anfangen.

Sensitivity Readings sind nicht nur relevant für Sachtexte wie Haruna-Oelkers, die eine kritische Auseinandersetzung mit einer vielfältigen Gesellschaft verfolgen, sondern auch für andere Genres, etwa Reiseliteratur oder Science Fiction. Mir wurde schon häufiger in Schreibworkshops empfohlen, dass eine Figur aus einem anderen Land oder eine Reise einen Text bereichern könnte. Ungefähr so: „Nehmen Sie einen Atlas (hoffentlich haben Sie noch einen) und blättern Sie ihn irgendwo auf. Dann erschaffen Sie eine Figur aus diesem Land, recherchieren Sie dazu im Internet.“ Das klingt nach einer harmlosen Schreibübung, kann aber sehr schnell zur Reproduktion von Klischees und zu Exotisierung führen. Bei beidem handelt es sich um jenes zum Anderen machen, das Hornscheidt erwähnt. Besonders Exotisierung mag zunächst wie ein nützliches erzählerisches Mittel für den Spannungsbogen wirken, aber Autor*innen stärken damit bestehende Hierarchien und den Preis zahlen diejenigen, die sich am unteren Ende befinden.

Wenn Autor*innen sich auf sie einlassen, können Sensitivity Readings für ganz unterschiedliche Textsorten wertvoll sein, und zwar aus vielerlei Gründen: Sensitivity Readings helfen, an den gesellschaftlichen Verhältnissen zu rütteln. Sie sind eine Praxis für mehr Respekt. Sie drücken den Wunsch aus, möglichst viele Leser*innen mitzudenken. Sie tragen damit zur Verbreiterung der Leser*innenschaft bei, was für die Buchbranche, in der letztendlich unternehmerisch gedacht werden muss, durchaus attraktiv ist. Ich freue mich, vermehrt die Art von Literatur lesen zu können, die vor Kreativität strotzt, die mich fesselt, die mich gedanklich herausfordert und die dafür nicht diskriminierte Gruppen exotisieren oder diffamieren muss.

Wir von poco.lit. bieten Sensitivity Readings für deutschsprachige Texte an (siehe Angebote). Für den deutschsprachigen Raum ist außerdem die Plattform sensitivity-reading.de eine hervorragende Anlaufstelle.

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