Mädchen, Frau, Etc.
Bernardine Evaristos Roman Mädchen, Frau, Etc. (übersetzt von Tanja Handels), der mit dem Booker Preis ausgezeichnet wurde, vermittelt etwas von extremer Aktualität. Daneben erscheinen viele andere Bücher altmodisch oder unmodern. Es stellt sich die Frage, wie die etablierte Literaturwelt so lange so beengt existieren konnte. Evaristos Buch lässt es merkwürdig erscheinen, dass der Reichtum und die Vielfalt der Erfahrungen, die in und durch die erzählten Geschichten verkörpert werden, nicht immer als offensichtlich wertvoll anerkannt worden sind.
Erzählt werden die Geschichten von zwölf Menschen – „hauptsächlich Frauen, hauptsächlich Schwarze“, wie es auf dem Buchrücken steht, für die Großbritannien auf die eine oder andere Weise ihr Zuhause ist. Sie sind sehr unterschiedlich und spannen einen Bogen über Generationen und politischen Gräben, z.B. von der streitsüchtigen 93-jährigen Hattie, die ihr ganzes Leben auf ihrem Hof nahe der schottischen Grenze verbrachte und die für den Brexit stimmte, bis zu Morgan geb. Megan, Hatties Urenkel*in, Twitter-Influencer*in, deren geschlechtliche Identität Hattie nicht begreifen kann, abgesehen davon, dass sie irgendwie nicht mit dem ihr bekannten einverstanden ist.
Das Buch ist außergewöhnlich in seiner Fähigkeit, das komplexe Leben all dieser Charaktere mit fast gleichem Einfühlungsvermögen zu behandeln. Sicherlich sind einige Geschichten fesselnder als andere. Was einzelne Leser*innen anspricht, hängt zudem wahrscheinlich davon ab, wie viel von ihrer eigenen Welt und ihren Werten sie repräsentiert finden. Angesichts der enormen Vielfalt der Charaktere ist klar, dass es zwischen ihnen politische Meinungsverschiedenheiten geben muss. Evaristo schafft es, diesen Gesprächen nicht nur mit Sensibilität, sondern auch mit einem Sinn für Humor zu begegnen. Sei es, wenn eine trans-Frau die Schwierigkeiten des Lebens im Patriarchat einer Person mansplaint, die ihr ganzes Leben als Frau gelebt hat; oder wenn ein weißes Landei aus der Arbeiter*innenklasse Roxanne Gay zitiert, um mit der ultrahippen, in London geborenen Yazz (die sich selbst für die wokeste Millennial überhaupt hält) über Diskriminierungshierarchien zu streiten.
Im Zentrum des großen Erzählbogens, der die verschiedenen Lebensgeschichten miteinander verbindet, steht ein Theaterstück von Amma, der (einst-)radikal-feministischen lesbischen Dramaturgin. Die After-Party bringt viele der Charaktere zusammen, die die Leser*innen im Laufe des Buches kennen gelernt haben, so dass es sich, wenn wir ihnen hier begegnen, um nuancierte, tiefgründige Personen handelt. Ammas Geschichte stellt insbesondere die Frage, ob es möglich ist, im „Establishment“ erfolgreich zu werden und seinen „radikalen“ Prinzipien treu zu bleiben. Während sich das Buch wiederholt über die Personen lustig macht, die diese kunstsinnige Londoner Theaterszene bevölkern, ist sein kritischer Blick nicht ganz so kritisch, wie er es bei dem elitären Habitus dieser Szene sein könnte.
Formell bleibt Evaristo innovativ. Sie verzichtet in Mädchen, Frau, Etc. auf Punkte am Satzende, um mit durchgehenden Sätzen einen frei fließenden Effekt zu erzielen. Der versartige Charakter ihres Schreibens verleiht dem Buch einen ganz eigenen, sanften Rhythmus, während der freie, indirekte Stil, der in die verschiedenen Kapitel einfließt, jeder der Figuren ein gewisses Maß an Mitspracherecht beim Erzählen der eigenen Geschichten lässt.
Evaristos Erzählung ist möglicherweise am eindrucksvollsten, wenn sie den Kolonialismus und die Migrationsgeschichten thematisiert, die die Frauen des Buches und ihre Vorfahren nach Großbritannien brachten. Evaristo befasst sich auch damit wie sich Prioritäten innerhalb migrantischer Familien verschieben, wenn sie Bummi aus Nigeria beschreibt, die viele Jahre als Putzfrau gearbeitet hat, und ihrer Tochter Carole, die in England geboren und aufgewachsen ist und jetzt als erfolgreiche Bankerin in der Londoner City arbeitet. So unterschiedlich die dargestellten Erfahrungen offensichtlich sind – wobei die Charaktere keineswegs fehlerfrei sind und sich wiederholt gegenseitig Vorwürfe machen -, so sehr drängt das Buch auf Zusammengehörigkeit. Implizit handelt es sich um ein Argument, dass uns mehr verbindet, als uns trennt. Es ist nicht nur ein absolut lesenswertes Buch, sondern hinterlässt auch einen angenehmen Hauch von Optimismus.
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