Weiße Flecken
Lene Albrechts Roman Weiße Flecken ist ein hervorragendes Beispiel einer kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Weißsein. Der Roman zeigt, wie eine junge weiße Frau den Anstoß dazu bekommt, die übliche Erzählung der deutschen Geschichte zu hinterfragen, ihre neugewonnene Perspektive persönlich zu nehmen und sich mit den Verwicklungen ihrer eigenen Familie auseinanderzusetzen.
Die Protagonistin Ellen befindet sich in einer Krise und nimmt dann kurzentschlossen das Angebot einer ehemaligen Professorin an, für einen Forschungsaufenthalt nach Togo zu reisen. Dort begibt sie sich auf die Spuren des deutschen Kolonialismus. Dieser Teil ist in der Ich-Perspektive erzählt, Ellen beschreibt und beobachtet, was sie erlebt und wem sie begegnet. Sie bemüht sich um einen nüchternen, neugierigen Ton, aber es gelingt ihr nicht, selbst außen vor zu bleiben. Der zweite Teil zoomt etwas raus und weitet den Blick, kurzzeitig wird Ellen beobachtet und aus der Außenperspektive erzählt. Sie hat einen Unfall beim Besuch einer kolonialen Funkstation, kommt nur schwer mit ihrer Verletzung zurecht und bricht ihren Aufenthalt in Togo letztendlich ab. Der dritte Teil wird wieder aus der Ich-Perspektive erzählt, Ellen ist älter und Mutter geworden. Um Togo geht es kaum noch, aber die Erfahrung dort hat etwas angestoßen. Ellen fallen Dinge auf, die sie vorher nicht so wahrgenommen hat, und sie beginnt diesen Dingen bewusst nachzugehen. Z.B. stellt sie fest, dass ihr Onkel in Nigeria gelebt hat, dort zu Reichtum gekommen ist und vermutlich eine Frau vergewaltig und geschwängert hat, ohne sie anschließend zu unterstützen. Sie erfährt auch, dass ihre Urgroßmutter eine Afro-Panamaerin war. Ihr weißer Ururgroßvater, der in Panama mit Kolonialwaren handelte, hatte sie als einziges seiner panamaischen Kinder mit nach Deutschland gebracht. Ellen sucht Gespräche mit Verwandten und nähert sich der eigenen Familiengeschichte, aber es bleiben viele Lücken bestehen. Auch wie Ellen Romane und Kinderbücher liest oder wie sie Ausstellungen betrachtet, hat sich geändert: Einmal wahrgenommen, lassen sich koloniale Zusammenhänge nicht mehr wegdenken. Die Frage, die bleibt, ist der Umgang mit dieser gewaltvollen Geschichte. Irgendwann stellt Ellen fest: „Und allmählich wird mir klar, dass ich nicht mehr mit einer Antwort rechnen kann, und vielleicht ist das die einzig wahre Antwort; es gibt keine.“ (S. 227)
Weiße Flecken ist ein wichtiges Buch, das mit Feingefühl zeigt, wie der kritische Reflexionsprozess einer weißen Person aussehen kann. Ich würde den Roman besonders allen weißen Personen empfehlen, die wie Ellen einen Forschungsaufenthalt im globalen Süden planen – oder einen sozialen Freiwilligendienst oder eine Urlaubsreise. In Bezug auf die deutsche Kolonialgeschichte wünsche ich mir zusätzlich zu Weiße Flecken weitere Romane aus nicht-weißer Perspektive. Bisher haben wir zwei davon auf poco.lit. rezensiert, Nachleben von Abdulrazak Gurnah und The Magic of Saida von M.G. Vassanji.
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