Sprache und Sein
Sprache und Sein ist vielleicht nicht der klangvollste Titel für ein Buch, aber das sollte niemanden abschrecken Kübra Gümüşays wichtiges Werk zu lesen. Gümüşay sucht nach Möglichkeiten, wie unsere Gesellschaft gerechter gestaltet werden kann und erklärt überzeugend, dass Sprache dabei eine zentrale Rolle spielt.
Zunächst beschäftigt Gümüşay sich ausführlich mit der Wechselwirkung von Sprache und Wahrnehmung. Denn um zu verstehen, welche Macht Sprache besitzt, ist es nötig zu wissen, wie Sprache menschliche Lebensrealitäten konstruiert. Einerseits macht Sprache die Welt für Menschen wahrnehmbar, sie erlaubt alles Gesehene, Gefühlte oder Geschmeckte auszudrücken und verleiht der Erfahrung so Wirklichkeit. Sprache passt sich dementsprechend an den geographischen und kulturellen Kontext von Menschen an. Andererseits verrät jede Benennung, was in der jeweiligen Gesellschaft wichtig ist, geschätzt wird oder eben nicht. Sprache ist selten neutral. Diese Grundlage ist wichtig für Gümüşays Hauptthese: Sprache schreibt Dinge und auch Menschen fest, was nicht selten negative Folgen hat. Sprache und Diskriminierung sind eng verwandt – in Sprache und Sein geht es meistens speziell um anti-muslimischen Rassismus und Sexismus.
Zum besseren Verständnis nutzt Gümüşay das schöne und passende Bild eines Museums der Sprache: Hier kuratieren die Menschen, die unbenannt sind, und definieren damit alles Ausgestellte – alles Sagbare, also die ganze Welt – nach ihren Vorstellungen. Sie benennen auch die Menschen, die vom Kurationsteam ausgeschlossen bleiben und stattdessen ausgestellt werden. Manche der Benannten wollen raus aus ihrem Glaskasten und lehnen sich gegen die Regeln des Museums der Sprache auf. Sie wollen die Lücken aufzeigen, die bei der Gestaltung des Museums nicht mitgedacht wurden. Gümüşays Museumsmetapher bringt ihre Fragen – und die Motivation hinter diesem Buch – wieder in den Vordergrund: Bleibt das widerständige Sprechen der Benannten nur eine Ausnahme, die Unbenannte unterhält? Kann die Rollenverteilung von Unbenannten (Benennenden) und Benannten aufgelöst werden? Kann es Gleichberechtigung geben?
Eine Hauptursache, die diskriminierendes Denken, Sprechen und Handeln, bestehen lässt, ist laut Gümüşay die Art und Weise, wie in Deutschland öffentliche Debatten geführt werden. Ihrem Verständnis nach geht es viel zu häufig nur um Polarisierung, artet in regelrechte Kämpfe um absolute Wahrheiten und Aufmerksamkeit aus, was Zuhörende stark beeinflusst:
„je polarisierter solche Schaukämpfe ausgetragen werden, desto mehr verändern sie das Publikum, das unterhalten werden soll. Je eindeutiger und homogener die Positionen, je idealisierter und kompromissloser die Haltungen, desto tiefer werden die gesellschaftlichen Gräben. Für Zweifel, Zögern, Reflexion bleibt kaum noch Platz, bis wir schließlich vergessen, dass sie einmal Möglichkeiten waren“.
Sprache und Sein, 106
Gümüşay kritisiert, dass öffentliche Debatten so nicht nur an Komplexität verlieren, sondern letztendlich auch das Denken und Lernen von Menschen einschränken. Erst durch die Art der öffentlichen Debatte werden bestimmte Themen zu polarisierenden Themen gemacht. Diskriminierungsformen und der Widerstand gegen sie gehören oft in diese Kategorie.
Letztendlich sucht Gümüşay nach Lösungen. Ihre Vorschläge betonen, was z.B. in Social Justice Theorien oder Antidiskriminierungstrainings ebenfalls gerne vermittelt wird: Das bewusste Verwenden und Nichtverwenden von Begriffen ist eine Form des Widerstands und ein Ausdruck von Solidarität. Es entsteht Raum zum Denken und für echten Austausch, wenn es in einem Gespräch nicht um Rechthaben oder Selbstdarstellung geht. Grundsätzlich dient eine wohlwollende Haltung der Gestaltung einer gerechteren Gesellschaft.
Gümüşay bringt die politischen Dimensionen und realen Auswirkungen von Sprache auf eine sanfte und gleichzeitig glasklare Art und Weise wunderbar auf den Punkt. Beim Lesen hatte ich oft das Gefühl, dass ich schon lange auf genau dieses Buch gewartet habe: Es äußert Kritik, stößt Denkprozesse an, schafft Raum für Fehlbarkeit, lehrt Demut und macht Hoffnung.
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