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Die verschwindende Hälfte

Die verschwindende Hälfte

Die Geschichte beginnt mit der Rückkehr eines Zwillings in ihre kleine Heimatstadt in Louisiana. Die Vignes-Zwillinge sehen zwar identisch aus, könnten aber nicht unterschiedlicher sein. Am Anfang waren sie unzertrennlich und leben am Ende dennoch in getrennten Welten. Brit Bennetts Die verschwindende Hälfte erzählt die seltsamen Lebensgeschichten der Zwillinge und ihrer Töchter.

Die Vignes-Zwillinge, Desiree und Stella, beginnen ihr Leben in Mallard. Diese Stadt hatte ihr Vorfahre Alphonse Decuir 1848 auf dem Stück Land gründete, das er von seinem Vater, dessen Eigentum er einst gewesen war, geerbt hatte. Alphonse wurde als relativ helle Schwarze Person geboren und hoffte, Mallard zu einem „dritten Ort“ zu machen, zu einem zu Hause für Leute wie ihn: „Eine Stadt für Menschen wie ihn, die nie als Weiße akzeptiert werden würden und sich trotzdem nicht wie ein N***o behandeln lassen wollten“ (12). Mallards Entstehungsgeschichte gibt den Ton dafür an, wie der Roman die Bedeutungen, die Hautfarbe und Race zugeschrieben werden, verhandelt: welche Bürden und welche Privilegien sie mitbringen; die Schwere ihrer Konsequenzen, trotz ihrer absurden Willkür.

In Mallard wird helle Haut[1] zum Fetisch. Die Bewohner*innen streben nach hellerer Haut, sie wollen Menschen mit heller Haut heiraten, um hellere Kinder zu zeugen. Die Vignes Mädchen, die durch ihre kleinstädtische Lebensweise an Klaustrophobie leiden, fliehen nach New Orleans. Dort erkennt Stella, dass helle Haut ein hohes Gut ist, als es ihr gelingt, einen Sekretärinnenjob zu bekommen, indem sie als Weiße „durchgeht“. Ihr Einblick in diese Welt führt dazu, dass sie ihre Schwester verlässt, ihrem weißen Chef folgt, der schon bald ihr weißer Ehemann wird, und sie ihr Leben als weiße Frau lebt. Diese beiden haben eine blonde Tochter, Kennedy, die in Reichtum aufwächst.

Desiree, die den Verlust ihrer Schwester betrauert, verliebt sich in den dunkelsten Mann, den sie finden kann, und heiratet ihn. Auch diese beiden haben eine Tochter, Jude, die wiederholt als die dunkelste Person, die je gesehen wurde, beschrieben wird. Als Desiree auf der Flucht vor ihrem gewalttätig gewordenen Ehemann nach Mallard zurückkehrt, wird Jude in dieser Kleinstadt, die helle Haut verehrt, nie ganz akzeptiert.

Bei Bennett kreuzen sich die unterschiedlichen Wege dieser vier Frauen so kunstvoll und fast willkürlich, dass die Begegnungen manchmal gar nicht so wirken, als wären sie von Autorinnenhand inszeniert. Es wirkt unausweichlich, dass die Zwillinge wieder zueinander finden müssen – aber der Verlauf der Erzählung kann in dieser Hinsicht letztlich nur als antiklimaktisch bezeichnet werden. Vielleicht kommt der Roman gerade in der Vermeidung einer großen Katharsis dem Leben am nächsten. Da das Buch sehr unterschiedliche Szenen, Orte, Personen und Zeiten umfasst, ist es ergiebig, strukturiert und vielfältig in dem, was es bietet. Es enthält die Erlebnisse von Reece, geborene Therese; von Barry, der als Bianca auf die Bühne geht; von den Walkers, die in den 1960er Jahren in ein ansonsten ganz weißes Viertel ziehen. Ihre Geschichten bieten Einblicke in Erfahrungen, illegal Testosteron zu kaufen, in die AIDS-Pandemie, die in den 80er Jahren die queere Szene in Los Angeles heimsuchte, in den tief verwurzelten Rassismus der wohlhabenden Vorstädte.

Während ich beim Lesen das Gefühl nicht loswerden konnte, dass das Buch nicht ganz das geworden ist, was es hätte sein können, so fiel mir dennoch Bennetts besonderes Talent für Charaktere auf. Jede der vier Frauen, um die sich die Erzählung dreht, ist so unterschiedlich, auch wenn gewisse Ähnlichkeiten mitschwingen. Doch die Facette, die mir an dem Roman wohl am besten gefallen hat, waren wohl die „Nebenfiguren“. Als solche können sie fast nicht bezeichnet werden, denn sie schienen immer in der Lage zu sein, in die Dreidimensionalität zu springen, um ihr eigenes eigenwilliges Leben zu führen. Die verschwindende Hälfte ist es wert, gelesen zu werden: Wegen der repräsentierten Bandbreite an Erfahrungen; wegen der kritischen Auseinandersetzung mit Race und Colorism; und wegen der wunderbar nuancierten Charaktere.

Rezensions-pdf von Rowohlt. Die deutsche Version erscheint im Oktober 2020. Aus dem Englischen üersetzt von Isabel Bogdan und Robin Detje.


[1] Bemerkung zur Übersetzung: In der deutschen Übersetzung des Buches wird von heller Haut gesprochen und wir haben diese Formulierung übernommen, da wir selbst keine bessere Alternative finden konnten. Im Englischen heißt es „lightness“, nicht „light skin“. Dieser Unterschied ist wichtig, da Race ein soziopolitisches Konstrukt ist und kein biologisches. Schwarze und weiße Positionen wurden durch Rassismus hervorgebracht, nicht durch eine tatsächliche biologische Differenz. Im Buch Wie Rassismus aus Wörtern spricht, gibt es Beiträge von Susan Arndt zu „Hautfarbe“ und zum „Racial Turn“, die für ein besseres Verständnis weiterhelfen.

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