Ein Mensch, der schreit. Notizen von einer Rückkehr in die Heimat
Ein Mensch, der schreit. Notizen von einer Rückkehr in die Heimat oder Cahier d’un retour au pays natal im französischen Original von Aimé Césaire ist ein Werk, das literarische und politische Kategorien sprengt: Es ist ein Langgedicht, liest sich bisweilen aber wie ein Manifest; es beschreibt die Reise und Identitätssuche eines jungen Mannes aus Martinique und hat autobiographische Züge, doch ist es auch eine Reise in die Vergangenheit, die u.a. die Routen des transatlantischen Versklavungshandels aufruft; es gibt keine klassische Handlung und der Text lässt sich nur schwer zusammenfassen.
Dass das Cahier nicht zu fassen ist, mag auch an seiner Entstehungsgeschichte liegen. Zwischen der Erstveröffentlichung 1939 und der letzten Fassung von 1956 überarbeitet Césaire den Text mehrmals. Im Laufe dieser Jahre kehrt er außerdem von Paris nach Martinique zurück, um dort als Französischlehrer zu arbeiten – Frantz Fanon wird einer seiner Schüler sein. Ab 1945 engagiert Césaire sich schließlich in der Politik, wird Bürgermeister von Fort-de-France und Abgeordneter der Nationalversammlung. Literarisches Schaffen und politisches Engagement gehen bei Césaire Zeit seines Lebens Hand in Hand.
Cahier d’un retour au pays natal gilt als sein berühmtestes Werk und als zentraler Text der Négritude. Darunter ist ein Konzept Schwarzer Selbstbestimmung zu verstehen, das Césaire in den 1930er Jahren zusammen mit Léopold Sédar Senghor und Léon-Gotran Damas entwickelt, die beide ebenfalls in Paris studiert haben. Im Cahier manifestiert sich die revolutionäre, politische und künstlerische Kraft der Négritude.
Zu Beginn entwirft der Text in eindrücklichen Bildern das Panorama einer Insel in den französischen Antillen. Doch wird hier kein paradiesisches Bild aufgerufen, das dem kolonialen Imaginären – damals wie heute – entsprechen würde. Vielmehr sind die Bilder durchzogen von Misere und Verfall, und von einer stummen Wut über koloniale Herrschaft und christliche Doppelmoral.
Es folgt ein Aufbruch des Ich-Erzählers nach Europa, und die neuerliche Konfrontation mit dem Weißen Denken, mit Rassismus und Gewalt. In einer besonders berührenden Szene in einer Straßenbahn zeigt Césaire, wie das Selbstbild und Verhalten seines Protagonisten von verinnerlichtem Rassismus geprägt sind – ein Thema, das Frantz Fanon später in Schwarze Haut, Weiße Masken aufgreifen und brillant analysieren wird.
Das Cahier bleibt allerdings nicht bei einer Kritik des Kolonialismus stehen, sondern stellt auch einen Prozess der (Selbst-)Ermächtigung dar: Zunächst erfolgt eine Aneignung der negativen kolonialen Zuschreibungen, die mich an die Aneignung und positive Wendung des Begriffs Queer ab den 1990er Jahren erinnert hat. Im Cahier geht diese Aneignung mit einer Selbstbehauptung einher, und der Blick des Protagonisten öffnet sich nun auf alternative Denk- und Lebensweisen, anderen Formen des In-der-Welt-Seins. Schließlich erfolgt die Solidarisierung, ja Identifikation des Ich-Erzählers mit anderen Unterdrückten weltweit – eine Art Universalismus der Kolonisierten und Ausgebeuteten, die sich durch den gesamten Text zieht. Verbildlicht wird dies am Ende des Cahier: Auf einem europäischen Schiff erhebt sich eine Gruppe Schwarzer Menschen gemeinsam gegen ihre Versklavung, und sie segeln frei auf dem Schiff weiter. Den historischen Ort unfassbarer Gewalt wendet Césaire in ein revolutionäres Bild der Solidarität und Emanzipation.
Cahier d’un retour au pays natal ist kein einfacher Text, sowohl was seinen Inhalt als auch was seine Form betrifft. Ich habe bestimmt noch nicht alle Facetten verstanden, doch war ich ergriffen: von den unglaublich poetischen Bildern, den feinen Alltagsbeobachtungen, von der Kraft dieses Textes. Es ist ein Buch, dessen kritischer Geist immer noch aktuell ist, und das in seiner unbedingten Solidarität Mut macht.
(Die deutsche Übersetzung von Klaus Laabs ist im Verlag Matthes und Seitz erschienen)