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Archipel Inger Maria Mahlke

Archipel

Inger-Maria Mahlkes preisgekrönter Roman Archipel spielt auf Teneriffa und erzählt anhand von mehreren Familien die Geschichte dieser Insel rückwärts, von 2015 bis 1919. Mithilfe einer elliptischen und kleinteiligen Erzählweise, die ihren Leser*innen viel Aufmerksamkeit abverlangt, verdeutlicht Mahlke welch besondere Rolle die kanarische Inselgruppe vulkanischen Ursprungs in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts spielten.

Die geographische Lage vor der Nordwestküste Afrikas, fern ab vom europäischen Kontinent, lässt Teneriffa zu einem einzigartigen Schauplatz europäischer Machtspiele werden. Andererseits liegt Teneriffa so fern ab, dass Festlandeuropäer*innen es zeitweise vergessen. Nachrichten vom europäischen Festland und dem spanischen Zentrum der Macht in Madrid treffen häufig erst mit Verspätung ein. Nun wiederum erscheint Teneriffa als eine Insel ab vom Schuss, auf der alles nur der Natur abgetrotzt ist. Diesen ambivalenten Schauplatz zwischen Schönheit und Rauheit, zwischen Relevanz und Bedeutungslosigkeit nutzt Mahlke für Archipel und bietet anhand von drei spanischen Familien, die für verschiedene soziale Klassen stehen, und britischen Handelsleuten schnipselartige, vielschichtige Einblicke in mögliche Inselschicksale.

Das Lesen führt Kapitel für Kapitel vom Jahr 2015 weiter in die Vergangenheit, bis zum Silvesterabend im Jahr 1919, als die vergangene Zukunft beginnt. An diesem Silvesterabend wurde Julio Baute, el portero, geboren, doch er war nicht immer der Pförtner des Altenheims von La Laguna. Julio ist einer, der Privilegien nur als die der anderen kennt. Sein Vater verlor unter dem Franco-Regime seine Apotheke und Julios älteren Bruder, der nach einer Inhaftierung verschollen blieb. Julio selbst war Kurier im Bürgerkrieg, Gefangener der Faschisten, er floh und kam dann zurück auf die Insel. Durch seine Heirat mit Bernarda wird er Inhaber eines Elektronik-Geschäfts. Die Bautes repräsentieren den Mittelstand, der die Sozialisten unterstützte. Als grummeliger Mann von über 90 Jahren, der auf das 20. Jahrhundert zurückblickt, versteht Julio seine Tochter Ana nicht – wie konnte sie nur einen Bernadotte heiraten und Mitglied der konservativen Partei werden?

Die aristokratischen, großbürgerlichen Bernadottes mischten im Kolonialismus mit und gehörten zu den Gründern der Falange, der rechten Partei, die später von Franco entmachtet wurde. Die ungleichen Familien der Bernadottes und Bautes verbinden sich, als Felipe Bernadotte und Ana Baute heiraten. Das Buch beginnt im Jahr 2015 mit ihrer gemeinsamen Tochter Rosa. Felipe Bernadotte distanziert sich von seinem Vater Eliseo Bernadotte, den er den letzten Konquistador nennt. Eliseo Bernadotte war unter anderem verantwortlich für den Waffentransport nach Spanisch-Sahara. Eliseos Schwiegervater Lorenzo González war unter den Falangisten der ersten Stunde und macht Karriere als Besitzer einer parteitreuen Zeitung. Bei seinen Treffs mit anderen mächtigen Männern im Café Atlantico wurden alle wichtigen Entscheidungen getroffen. Als jüngster dieser Reihe einflussreicher Männer lehnt Felipe sich zwar gegen deren nationalistische politische Haltung auf, genießt aber die daraus entstandene finanzielle Sicherheit, vor allem nachdem er in seiner akademischen Karriere Rückschläge erlebt.

Bei den Bernadottes arbeiten schon seit mehreren Generationen Frauen aus der Familie Morales als Putzkräfte. Die Frauen befinden sich auf den untersten Sprossen der sozialen Leiter. Sie sind die Ausgestoßenen und ganz auf sich gestellt. Unbedeutend wie sie sind, nimmt ihre Geschichte auch am wenigsten Platz im Roman ein.

Zuletzt zeigt der Roman die Entwicklung der kanarischen Inseln von einer britischen Kolonie ohne Fahne zu einem strategisch wichtigen Ort der Faschisten hin zu einer Tourismushochburg. Im frühen 20. Jahrhundert übten Familien von den britischen Inseln auf Teneriffa weitreichende Macht aus, vor allem weil sie die Süßwasser zufuhr aus den Bergen kontrollierten. Sie bewirtschafteten die trockene Insel und ihre Handelshäuser für den Export von Tabak, Bananen und Tomaten waren überaus erfolgreich. Die kanarischen Inseln gehörten vor dem Faschismus, trotz ihrer Zugehörigkeit zu Spanien, gewissermaßen mit zum britischen Weltreich: Die Canary Wharf in London war eigens für diesen Handel gebaut worden.  Sidney Fellows, einer der erfolgreichen britischen Händler beschreibt Teneriffa als „…eine riesige internationale Kreuzung, an der mehrere Seestraßen zusammenlaufen …. Wie eine Postkutschenstation, nur für Schiffe“ (270).

Beim Lesen von Archipel erklärt der Rückblick Kapitel für Kapitel die Gegenwart. Einerseits beschreibt Mahlke Charaktere, Familienkonstellationen und Atmosphären überaus detailreich, andererseits bleiben aber einige Lücken bestehen. Die Sprünge durch die Geschichte folgen nicht immer einer klaren Logik – sie lassen Platz für die Fantasie, dass Vergangenheit und Zukunft auch immer ganz anders hätten aussehen können.

(bisher keine Englische Übersetzung)

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