Vaters Meer
Deniz Utlus neuen Roman Vaters Meer durchzieht eine sanfte Melancholie: Yunus erinnert sich an seinen Vater und stellt fest, wie unzuverlässig und flüchtig Erinnerungen sind. Dennoch muss Yunus sich auf sein Gedächtnis verlassen: „Es gibt die letzte Seite eines Buches und die letzte Stunde eines Lebens. Aber das Buch kann ich noch einmal lesen. An das Leben bleibt nur die Erinnerung.“
Yunus wächst als Einzelkind in Hannover auf und fährt jeden Sommer mit seinen Eltern nach Kızkalesi in die Türkei. Als Yunus 13 Jahre alt ist, hat sein Vater Zeki zwei Schlaganfälle und ist in Folge nahezu vollständig gelähmt. Sein Zustand wird als Locked-in-Syndrom bezeichnet, er ist unfähig sich sprachlich oder durch Bewegungen verständlich zu machen. Er kann nur noch durch das Aufreißen oder Schließen seiner Augen kommunizieren. So liegt Zeki erst in einem Pflegeheim und wird dann zu Hause von Yunus‘ Mutter gepflegt, bevor er zehn Jahre nach den Schlaganfällen stirbt.
Yunus‘ Erinnerungen sind punktuell fließen aber trotz größerer Zeitsprünge mühelos ineinander über. Stück für Stück erschaffen sie ein detailliertes Bild von ihm, seinem Vater, ihren Stärken und Schwächen und ihren Perspektiven auf die Welt. Yunus erzählt von alltäglichen Momenten, die er mit seinem Vater verbracht hat, etwa von regelmäßigen Flohmarktbesuchen oder vom Schwimmen im Meer. Es tauchen viele Momente auf, die er als besonders abgespeichert hat, wie die erste Reise in Zekis Geburtsstadt Mardin oder Zekis Besuch im Geschichtsunterricht von Yunus‘ Gymnasium. Als Erwachsener beginnt Yunus seine Erinnerungen mit Recherchen zu ergänzen. Er fährt an Orte, an denen sein Vater gelebt hat und versucht die Stationen seines Lebens nachzuverfolgen: Zeki ist von Mardin über Istanbul auf Umwegen nach Hannover gelangt und seine Entscheidungen wurden von der türkischen und deutschen Politik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt.
Vaters Meer folgt auf überaus einfühlsame Weise den Gedanken eines Jungen, der mit dem Verlust seines Vaters umgehen muss. Doch Utlu behandelt das traurige Thema so, dass es nicht zu niederschmetternd ist. Vielmehr zeigt der Roman, wie das Leben trotzdem weitergeht. Die Stärke des Romans liegt in der Entwicklung, die Yunus durchmacht und in seinen Reflexionsprozessen. Es wird klar, dass sich die Perspektive eines Sohnes auf den Vater mit zunehmendem Alter wandelt und dass Vergangenes manchmal einer Neubewertung bedarf. Erinnerungen sind nicht in Stein gemeißelt. Yunus‘ Mutter nimmt eigentlich nur eine Nebenrolle in dem Roman ein, aber mir hat besonders gut gefallen, dass Yunus als Erwachsener mehr Verständnis und Empathie für sie aufbringt. Es gibt intime Szenen zwischen den beiden, die zeigen, wie Yunus seine jugendliche Selbstbezogenheit langsam hinter sich lässt. Vaters Meer ist sanft, bittersüß und überaus lesenswert!
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