Nachbarn
Wohl keine andere Kunstform macht Zeitreisen so eindringlich möglich wie die Literatur. In Diane Olivers Kurzgeschichtenband Nachbarn befinden wir uns in den USA der 1960er Jahre, bekanntermaßen einem Jahrzehnt des Protests und der politischen Umwälzungen. Die sogenannte „Rassentrennung“, die den US-amerikanischen Alltag vor allem in den Südstaaten bestimmt, bekommt Risse und die damit einhergehenden Veränderungen werden von Oliver literarisch verarbeitet: Ihre Kurzgeschichte „Vor der Dämmerung“ erzählt von einer Gruppe junger Menschen, die in einem Restaurant mit vorgeschriebenen Bereichen für Afroamerikaner:innen die Grenzen aufbrechen und einen Sit-in-Protest wagen. In „Kammer“ begleiten wir eine junge Frau bei ihrem ersten Jahr an der Universität, wo sie die einzige POC ist. Und in „Spinnen weinen ohne Tränen“ heiratet eine weiße Frau einen verwitweten Schwarzen Arzt – zum Ärger ihrer Mitmenschen.
Die politischen Entwicklungen mitzutragen, fordert von den Schwarzen Individuen in Olivers Kurzgeschichten einen hohen Preis. Ihre bekannteste Erzählung „Nachbarn“ orientiert sich an der Geschichte von Ruby Bridges und handelt von einem kleinen Jungen, der als erster Schwarzer eine weiße Schule in seiner Nachbarschaft besuchen soll. Am Vorabend seines ersten Schultags wird seine Familie massiv bedroht und von Zweifeln geplagt. „Ich schätze, wir tun, was wir tun müssen,“ stellt seine Mutter nüchtern fest. Oliver wirft ein Licht auf die psychischen und physischen Gefahren, der sich Schwarze Menschen im Kampf für ihre Rechte aussetzen. Einige Figuren zerbrechen an dem Druck, im Alltag die Vorreiter:innenrolle einnehmen zu müssen. So heißt es über Ellie, die erste und einzige Schwarze Person an ihrer Hochschule: „Sie war es leid, das Experiment zu sein.“
Auch die Autorin selbst bewegte sich in Settings, die bis dato vor allem weißen Menschen vorbehalten waren. So nahm sie beispielsweise 1965 an dem exklusiven Iowa Writers’ Workshop teil. Ihr literarisches Schaffen fand jedoch ein frühes Ende: Mit nur 22 Jahren kam Oliver bei einem Motorradunfall ums Leben. Zu Lebzeiten wurden lediglich vier von ihren Kurzgeschichten veröffentlicht; ihr Werk geriet in Vergessenheit, bis der Literaturkritiker Michael A. Gonzales vor Kurzem auf ihre Kurzgeschichten aufmerksam wurde. Zeitgleich mit der Erstveröffentlichung des Kurzgeschichtenbands in den USA erscheint nun auch hierzulande die Übersetzung von Brigitte Jakobeit und Volker Oldenburg. Die eingängige deutsche Fassung trifft Olivers schlichten, aber mitreißenden Stil und greift dabei die Historizität der Geschichten auf: Wo notwendig, werden in der Übersetzung veraltete Bezeichnungen verwendet (aber nicht immer ausgeschrieben), die der Darstellung von Alltagsrassismus dienen.
Wer Olivers Geschichten genau liest, begreift, dass es sich dabei nur bedingt um Zeitreisen handelt: Ihre Darstellungen von Diskriminierung, häuslicher Gewalt und patriarchaler Unterdrückung haben auch gut 60 Jahre nach ihrer Entstehung mehr mit unserer Realität zu tun, als vielen Leser:innen lieb sein dürfte. Die eindrücklichen Alltagsbeschreibungen zeichnen akribisch nach, wie sich das Politische im Mikrokosmos des Privaten – in der Familie, in der Gemeinde oder im Freundeskreis – manifestiert. Nicht die großen Aktivist:innen oder radikalen Handlungen stehen im Mittelpunkt, sondern beispielsweise die alleinerziehende Mutter von vier Kindern, die beim Arzt nicht aufgerufen wird oder das Dienstmädchen, das Flecken auf der Couch verursacht und das Weite sucht. Diese Vielstimmigkeit ist die große Stärke von Diane Olivers Kurzgeschichten, von denen einige noch lange nachhallen.
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