Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung
Algier, Sommer 1942: an einem einsamen, hitzeflirrenden Strand erschießt ein gewisser Meursault einen Menschen. Warum, weiß er selbst nicht so genau – und wird doch weltberühmt, denn Meursault ist der existentialistische Held in Albert Camus Der Fremde. Weniger berühmt, eigentlich sogar von der Geschichte komplett vergessen, ist dagegen der Mann, den er umbringt: kein einziges Mal wird dessen Name genannt. Aber nicht etwa, weil man ihn nicht wüsste, sondern weil er nicht zählt. Sein Name, seine Geschichte, seine Identität ist für die weiße Leser*innenschaft schlichtweg nicht von Interesse, da der Ermordete ein Araber ist. Und damit einer der „Gespenster dieses Landes, während die Kolonialherren es ausraubten.“ (23) Denn die Algerier*innen sind, obwohl sie neun Zehntel der Bevölkerung ausmachen, politisch unsichtbar und bleiben sowohl für die französischen Kolonist*innen als auch für die Europäer*innen nur ein schemenhaftes Anderes.
Dagegen schreibt – oder besser, monologisiert – nun der Bruder des damals Ermordeten an, nämlich in Kamel Daouds Writing Back, in dem Roman Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung. Damit spiegelt er die Erzählform von Der Fremde wider, aber bei dieser Spiegelung allein bleibt es nicht: im Laufe des Romans wird klar, dass der Protagonist nach und nach zum Wiedergänger seines älteren, getöteten Bruders mutiert und schließlich sogar selbst zur Waffe greift, um in einem Mord, den er selbst nur noch „Restitution“ nennt, einen Franzosen umzubringen. Und zwar zu genau gespiegelten Verhältnissen: es ist dunkel und kalt, statt hell und heiß, es ist zwei Uhr nachts statt zwei Uhr mittags und der Mond ist einziger Zeuge statt der Sonne.
Diese „Restitution“ in Daouds Roman ist eine Anspielung auf einen anderen Text, der sich ebenfalls mit den kolonialen Verhältnissen in Algerien auseinandersetzt: Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde. Denn darin verteidigt Fanon nicht nur das Recht der Kolonisierten auf Gewalt, um sich von der Fremdherrschaft zu befreien, sondern wählt vor allem auch einen Schreibstil und eine Explizität, die die erlebte und tagtäglich reale Gewalt in den Kolonien reflektiert. Denn koloniale Gewalt beginnt bereits bei der Sprache – so wird strukturelle Diskriminierung beispielsweise durch Gestzestexte, die die Betroffenen weder lesen noch verstehen können, etabliert. Die eloquenten Fallstricke der Bürokratie sind bedrohlich. Worte werden lebensgefährlich, das weiß auch der Protagonist in Der Fall Meursault: „Hast du bemerkt, wie er schreibt? Er benutzt die Kunst des Dichtens, um den Schuss aus einer Waffe zu beschreiben!“ (11)
Dieser Roman von Kamel Daoud hat für mich einen Schlussstrich unter einen wunden Punkt gezogen, der mich lange beschäftigt hat: das Erwähnen und gleichzeitige Verschweigen von algerischem Leben in Der Fremde. Endlich spielt mal was in Algerien, war mein Gedanke, als wir Camus Text für das Französisch-Abitur gelesen haben. War mein Gedanke, bis ich enttäuscht merkte, dass das Algerien, an das ich dachte, das Algerien, aus dem der eine Teil meiner Familie kommt, wieder nicht stattfand. Wie immer. Dass dieses Vergessen und Weglassen der Anderen symptomatisch ist, habe ich erst später begriffen. Dass man aber tatsächlich dagegen anschreiben kann, hat mir dann Der Fall Meursault bewiesen.
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