Die geheimste Erinnerung der Menschen
Der senegalesische Schriftsteller Mohamed Mbougar Sarr gewann für seinen Roman Die geheimste Erinnerung der Menschen (aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller) 2021 den prestigeträchtigen französischen Literaturpreis Prix Goncourt. Ende 2022 erschien die deutsche Übersetzung im Hanser Verlag, der über eine digitale Spurensuche, bei der ein Treffen mit dem Autor in München gewonnen werden konnte, versuchte das Interesse der Leser*innenschaft zu wecken. Diese Aufmerksamkeitsstrategie passte insofern gut, da sich Diégane, der Protagonist des Romans selbst auch auf eine Suche begibt: Nachdem ihm das verloren geglaubt Kultbuch eines senegalesischen Schriftstellers, T. C. Elimane, in die Hände fällt, will er ihn ausfindig machen.
Diégane kommt selbst aus dem Senegal, studiert aber (etwas nachlässig) in Paris und arbeitet an seinem zweiten Roman. Elimanes einziger Roman Labyrinth des Unmenschlichen aus dem Jahr 1938 fasziniert ihn. Seine Nachforschungen führen ihn zu alten Presseberichten, die Elimane erst als „Schwarzen Rimbaud“ feiern, als müssten afrikanische Autor*innen an einem europäischen Standard gemessen werden, und ihn dann verreißen, er hätte plagiiert und kein eigenständiges Werk verfasst. Elimane scheint sich gar nicht geäußert zu haben. Kurz nach dieser öffentlichen Aufregung über Elimanes Roman bricht der Zweite Weltkrieg aus, was es noch schwieriger macht, seine Spur zu verfolgen. Aber Diégane gibt nicht auf. Er reist sogar nach Amsterdam, verfolgt Elimanes Geschichte bis nach Buenos Aires und dann in ein Dorf im senegalesischen Norden. So fügt er Stück für Stück Elimanes Geschichte zusammen, wobei einige gruselige Details für immer Spekulationen bleiben werden. Menschen, die nicht selbst an ihrer öffentlichen Persona arbeiten, werden unweigerlich zu Projektionsflächen verschiedenster Fantasien.
Die geheimste Erinnerung der Menschen feiert auf mitreißende Weise die Literatur. Gleichzeitig wird der Eurozentrismus, der nicht nur die literarische Welt prägt, auf die Spitze genommen. Diégane, Elimane und seine Eltern vor ihm müssen sich in einer Welt positionieren, die alles mit afrikanischem Ursprung als rückständig betrachtet. So entsteht ein Ziehen und Zerren zwischen Anpassungszwang und bewusstem Festhalten an eigenen Werten und Traditionen. Klar ist, dem komplexen Erbe des Kolonialismus ist nicht zu entgehen.
Die geheimste Erinnerung der Menschen ist nicht nur eine spannende Spurensuche aus Liebe zur Literatur. Der Roman hält dem europäischen Literaturbetrieb schelmisch den Spiegel vor. Umso mehr hat es mich gefreut, dass der Hanser Verlag mit seinem digitalen Werbespiel in dieses Buch investiert hat. Verwunderung und Irritation hat dafür die unkommentierte Verwendung des N-Worts in der deutschen Übersetzung in mir ausgelöst.
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