She will build him a city
In seinem Roman She will build him a city (Sie wird ihm eine Stadt bauen – bisher nur in Engl. erschienen) webt Raj Kamal Jha meisterhaft komplexe Geschichten ganz normaler Menschen zusammen und schafft Vollständigkeit durch Fragmentierung. Jhas kompromisslose Handhabe als Schriftsteller verschachtelte und vielschichtige Narrative zu verfassen ist eine natürliche Folge seines Wunsches als Enthüllungsjournalist „Geschichten zu erzählen, die andere nicht erzählen… die nicht erzählt werden wollen… und wenn sie nicht erzählt werden, evtl. nie erzählt werden“. Gleich zu Beginn gibt Jha einen Vorgeschmack auf die düstere Atmosphäre in der indischen Metropole Delhi im 21. Jahrhundert, indem er dem Roman ein Zitat aus Charles Dickens „Oliver Twist“ voranstellt. She will build him a city ist ein Roman, in dem die echte Welt mit der ausgedachten verschmilzt, in dem Träume und Hoffnungen real aussehen, die Realität flüchtig ist und ein ständiges Gefühl von Déjà-vu vorherrscht, in dem zeitliche Stränge einander überlagern, Erinnerungen aus Verlusten entstehen, Konzepte von Gut und Böse sich in hässlichen und zerbrechlichen Fragmenten verflechten und die Stadt Delhi selbst als Protagonistin erscheint. Die Stadt, die mit ihrer Rage Menschenleben fordert, wird durch stechendschmerzhafte Sommer, dunkle Winter und das geheimnisvolle Tuch der Nacht erzählt.
Delhi existiert in diesem Roman als ein lebendes und atmendes Wesen und spielt eine große Rolle in der Plot Gestaltung. Peripherien der Stadt spielen eine besondere Rolle in der Formulierung wie Charaktere innerhalb der Stadt interagieren oder die Stadt nachahmen oder wie sie miteinander interagieren, wenn sich ihre Wege in der Stadt kreuzen. Jha erzeugt diesen Effekt durch die Darstellung verschiedener Orte der Stadt mit Hilfe ihrer eigenen Metonymien: Die U-Bahn, die verschiedene, darmartige Kurven hat und Grenzen zwischen die reichen und armen Teile der Stadt zieht; die Schule, für die sich hunderte von Kindern bewerben, aber nur ein paar „glückliche“ Ausgewählte angenommen werden; das Waisenheim, in dem Kinder mit besonderen Bedürfnissen eine zweitklassige Behandlung erfahren; ein Krankenhaus, in dem ständig Kämpfe ausgetragen werden und Ungeduld und Proteste stetig steigen; die Autobahnen, die Autos fahren lassen auf dieselbe Weise wie Blut durch Adern fließt; die neuen Gebäude, die auf Feldern entstehen wie Zellen in einem Muskel; die getrennten Aufzüge, die in dunklen Ecken versteckt sind und nur von Bediensteten und Tieren benutzt werden, um den wohlhabenden Wohnungskomplex, der mit Pflanzen gefüllt ist, zu erreichen; das Schwimmbecken, das auf dem Ackerland gebaut wurde, auf dem Generationen von Bauern in Ecken und Winkeln leben wie Kakerlaken – ungesehen und ungehört; die mit Glas eingemauerte Einkaufsmall, die nur in der Fantasiewelt auch von den Abgehängten und Benachteiligten betreten werden kann; die Dunkelheit der Kinos, die wie Miniaturversionen der Stadt selbst wirken; die Leinwände, auf denen manchmal die Realität mit der Fantasie verschmilzt; das Dorf Opaar, das die unbekannte andere Seite darstellt, getrennt und weit weg von der Stadt.
Diese Verwicklungen und sich überlagernden Verwirrungen, die durch die vielstimmige Struktur des Romans erzeugt werden, können mit Hilfe von verschiedenen, flüchtig auftretenden Charakteren und Orten gesehen werden, die erscheinen und gleich wieder verschwinden und keine zu große Rolle für den Plot spielen, ihm aber ein schlüpfriges Narrativ geben. Mit dieser Struktur vermittelt Jha uns eine Ahnung davon wie Menschen in Megastädten für kurze Momente aufeinanderstoßen und ihre vielen Stimmen gemeinsam Unzufriedenheit, Verzweiflung, Vernachlässigung, Angst und Hoffnung ausdrücken. Jha stellt sicher, dass der Roman mit einer aufwühlenden Aufmerksamkeit für die verschiedenen sozialen Klassen der Stadt gelesen werden muss: Es sind die Stimmen der Reichen vertreten, der Armen, der Sichtbaren, der Unsichtbaren, derjenigen, die in den dunklen Ecken der Stadt leben, die keine Fernsehkameras jemals erreichen. Komplett gegensätzliche Welten leben direkt gegenüber voneinander und überschneiden sich sogar manchmal für einen Moment – es ist ein hinein und wieder hinaus Huschen auf körperlicher, emotionaler und psychologischer Ebene. Jha schreibt sicher nicht, damit es sich seine Leser*innen gemütlich machen können, sondern um sie mit denkwürdigen Details, düsteren Metaphern und dunkler Satire in ihren Grundfesten zu erschüttern. Sein Plan geht auf brillante Weise auf, um die indische Megacity in der postmodernen Zeit angemessen literarisch darzustellen.
Obwohl das Buch sich im Kern um ein Waisenkind dreht, das allein in die unbekannte und beängstigende Welt hinaustritt, geht es in diesem Roman im Wesentlichen um Erinnerung. Diese Erinnerung ist das Produkt von Verlust und damit gleichzeitig faszinierend und unbehaglich. In einer modernen Metropole wie Delhi, in der ein Großteil der Bevölkerung unter 30 ist, beginnt der Roman dort, wo die Hoffnung der jungen Leute endet, an dem Punkt, an dem die Charaktere ihr Leben nicht mehr zurückfordern können. In seiner Darstellung der Charaktere fragt Jha was passiert, wenn die Blase dieser riesigen Stadt platzt und niemand sich mehr an den festen Fundamenten von Strukturen festhalten kann. Müssen alle jammernd und verzweifelt zurückbleiben oder können sie neue Hoffnung finden? Jhas Buch wird letztendlich geprägt von Menschen, wie sie sich ihre ausgedachten Welten immer wieder neu gestalten um Hoffnung zu behalten. Sie tragen ihre eigenen Versionen der Stadt in sich selbst. Deshalb heißt der Roman wohl She will build him a city, um zu verdeutlichen, dass Hoffnung auch an dunklen Orten immer wieder neu „gebaut“ wird. Jhas Buch ist all denen zu empfehlen, die zarte Szenen lieben, in denen ein kleines Baby auf einem liebevollen Hund reitet oder ein feenähnliches Kind im Jenseits mit den Sternen tanzt, die kontrastiert werden von bedrohlichen Schlaglichtern auf Vergewaltigung und Mord, schmutzige Politik und die negativen Seiten einer boomenden Wirtschaft.
(She will build him a city ist bisher noch nicht in deutscher Übersetzung erschienen)