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portrait of Kavita Bhanot

Schreiben und Übersetzen sind keine neutralen Tätigkeiten: Ein Interview mit Kavita Bhanot

Kavita Bhanot ist eine Schriftstellerin, Übersetzerin, Lehrerin und Aktivistin, die in Birmingham (Großbritannien) lebt. Wir hatten das große Vergnügen, mit ihr über ihre Arbeit und ihre Perspektive auf das Übersetzen sprechen zu können. Es geht um Übersetzen als politischen Akt, als eine Form von Gewalt und als dialogförderndes Mittel, wenn verantwortungsvoll übersetzt wird.

Du hast bereits auf unterschiedliche Weisen mit Literatur gearbeitet. Dabei scheinst du dich sehr für Machtdynamiken zu interessieren. Könntest du uns ein paar Einblicke in deine berufliche Reise geben?

Ich habe zunächst Belletristik geschrieben und dabei begonnen, mich für die Politik des Schreibens zu interessieren. Damit beschäftigt sich auch die von mir herausgegebenen Anthologie Too Asian, not Asian enough (2011). Dieser Sammelband hinterfragt die Schubladen, in die Schriftsteller*innen gesteckt werden, welche Interessen Verlage bei der Veröffentlichung von Büchern verfolgen und wie einschränkend diese Situation ist. Ich begann, über Ideologie nachzudenken, und beobachtete, dass Schriftsteller*innen einen bestimmten Blick oder eine bestimmte Sichtweise verinnerlichen. Ich habe mich selbst dabei ertappt, dass ich in den ersten Jahren in gewisser Weise für einen weißen Blick geschrieben habe. Im Rahmen meiner Doktorarbeit schrieb ich einen Roman und eine Dissertation und untersuchte britisch-asiatische Literatur, die zwischen 2000 und 2015 veröffentlicht wurde, unter dem Gesichtspunkt des Britisch-Seins und des verinnerlichten und reproduzierten weißen Blicks. In dieser Literatur, die in den ersten 15 Jahren des 21. Jahrhunderts veröffentlicht wurde, wurden südasiatische Sprachen und Kulturen mit Scham verbunden. Diese Literatur drückte den Wunsch nach Assimilation an die weiße, britische Identität aus. Im Anschluss schrieb ich den Essay „Decolonise, not diversify“ (2015). Doch seit der Veröffentlichung dieses Essays hat sich einiges verändert. Damals sprachen die Leute von Diversität, aber die Literatur dieser Zeit vermittelte mir den Eindruck, dass zwar einige Diversitätskriterien erfüllt wurden, die Perspektive und Ideologie sich jedoch nicht von der Literatur unterschied, die weiße Autor*innen verfassten. In den letzten Jahren hat es eine Verschiebung gegeben, die diese Scham und das Assimilieren in Frage stellt und ablehnt. Aber vielleicht ist die Veränderung noch nicht tiefgreifend genug. Zum Beispiel scheinen heutzutage viele Menschen den Begriff „Dekolonisierung“ für dasselbe zu verwenden wie „Vielfalt“. Und es gibt noch eine andere Art des weißen Blicks, die die performative Darstellung und Fetischisierung unserer Identitäten und Sprachen betrifft. Dieser Blick macht uns immer noch zu „Anderen“ und fixiert uns. Gleichzeitig können Hierarchien und Vorherrschaften überspielt und gleichgeschaltet werden.

Daraufhin begann ich mich mit Panjabi und Hindi-Literatur und Übersetzung auseinanderzusetzen – wahrscheinlich, weil mich das, was ich auf Englisch las, unzufrieden machte. Es ist eine Reise, denn je tiefer ich gegraben haben, desto mehr neue Schichten taten sich auf. Um die Besonderheiten einer Region oder Sprache zu verstehen, müssen wir die zugehörigen Hierarchien hinterfragen, z.B. in Bezug auf das Patriarchat, das Kastensystem, Sexualität und Religion. Als Person mit Hintergrund im Hindu-Brahmanismus habe ich mich intensiv mit der Vorherrschaft des Brahmanismus auseinandergesetzt. Im Westen neigen wir dazu, hinduistisch-brahmanische Sichtweisen zu konsumieren, auch in der Literatur. Geschriebenes, das dies entlarvt, das andere Perspektiven aufzeigt, kann sehr wirkungsvoll sein. Das gilt für die feministischen, kastenkritischen Kurzgeschichten der Hindi-Autorin Anjali Kajal, die auf Englisch unter dem Titel Ma is Scared (Comma Press) erschienen sind.  Als ihre Übersetzerin habe ich mich verpflichtet, ihren Geschichten treu zu bleiben und meine eigenen Perspektiven, die ich über die Jahre verinnerlicht habe, zu hinterfragen. Gleichzeitig bleiben meine eigene Position, meine Erfahrungen und die englische Sprache ein Filter für den Text. Die Übersetzung ist kein durchsichtiges Fenster. Ein Verständnis dafür zu entwickeln, was wir verinnerlicht haben und was unser Schreiben und Übersetzen beeinflusst, ist eine andauernde Reise.

Du sagst also, dass Übersetzen keine neutrale Tätigkeit ist? Inwieweit ist Übersetzen politisch und wie wirkt sich das auf deine Übersetzungspraxis aus?

Ich arbeite erst seit kurzem als Übersetzerin, auch wenn ich früher schon über meine Diaspora-Erfahrung geschrieben habe: Ich musste jeden Tag übersetzen. Das Nachdenken über literarisches Übersetzen kam erst viel später. Zu einer politischen Herangehensweise an das Übersetzen gehört, zu hinterfragen, was es bedeutet, Übersetzer*in zu sein und wer übersetzen darf. Dazu gehört, Übersetzen anders zu betrachten, nicht unbedingt in Bezug auf professionelle Übersetzer*innen oder das formale, strukturierte Erlernen einer Sprache, sondern in Bezug auf diejenigen, die unterschiedliche Erfahrungen mitbringen, die einen anderen Zugang zu Sprachen haben. Dazu gehört auch, zu überlegen, was man in die Übersetzung einbringt, wenn man in einer Sprache lebt, wenn man in sie involviert ist, wenn dabei etwas auf dem Spiel steht. Damit beschäftigen sich einige Beiträge in der Anthologie Violent Phenomena, die ich kürzlich mitherausgegeben habe, z.B. der erste von Gitanjali Patel und Nariman Youssef und der letzte von Madhu Kaza.

Ein weiterer Aspekt ist also die Frage, wie wir übersetzen und für wen wir übersetzen. Ich habe mich mit einigen der theoretischen Diskussionen zu diesem Thema befasst, u.a. mit Lawrence Venuti. Er neigt dazu, von Domestizierung und Verfremdung zu sprechen. Es gibt wichtige Argumente, die die Idee der Domestizierung des Schreibens oder Übersetzens für weiße oder westliche Leser*innen kritisieren – also für neutrale, unsichtbare Leser*innen, denen die Dinge schmackhaft gemacht und erklärt werden. Andererseits ist die Idee der Verfremdung auch mit dem weißen Blick verbunden. Sie ähnelt der jüngsten Welle des Widerstands gegen den Assimilationsdruck, der mit der Scham und der Auslöschung nicht-westlicher Sprachen und Kulturen einhergeht, ein Widerstand, der, besonders wenn er zur Ware wird, ins Feiern und Fetischisieren abgleiten kann. Verfremdung ist auch eine Form von Fetischisierung und Andern (othering), während die „Neutralität“, Zentrierung und Macht des weißen Blicks intakt bleibt.

Die bewusste Abkehr von diesem imaginierten weißen Leser (i.d.R. männlich), die Treue zum Original und die Hinwendung zu denjenigen, die im Text repräsentiert werden, verändern die Art und Weise des Übersetzens. Z.B. kann darauf verzichtet werden, die Übersetzung zu erklären oder Fußnoten und Glossare einzufügen. Es könnten nicht-englische Wörter (ohne Kursivierung) genutzt werden oder Begriffe aus dem indischen Englisch, die im Westen nicht üblich sind (z.B. „government school“ statt „state school“ und „cycle“ statt „bicycle“ oder „bike“). Es ist auch wichtig, über die Voreingenommenheit innerhalb der englischen Sprache nachzudenken, z.B. über Wörter wie „slum“ und „jungle“ (die aus dem Sanskrit kommen).

Übersetzer*innen werden oft als Brückenbauer*innen betrachtet, die es ermöglichen, einander zu verstehen und Verbindungen zueinander aufzubauen. In Violent Phenomena, der Essaysammlung, die du gemeinsam mit Jeremy Tiang herausgegeben hast, vertreten die Beiträge jedoch eine andere Perspektive: Sie problematisieren die Idee, mithilfe von Übersetzungen Zugänge zu schaffen. Warum? Übersetzung kann scheinbar auch als eine Form von Gewalt verstanden werden. Wie das?

Khairani Barokka schreibt in ihrem Aufsatz in dem Sammelband über Zugänge und Ayesha Manazir Siddiqi und Mona Kareem gehen ebenfalls darauf ein. Die Terminologie, die im Zusammenhang mit dem Übersetzen verwendet wird, verweist oft auf eine gewisse Anspruchshaltung. Metaphern für das Übersetzen wie das Brückenbauen und das Überschreiten von Grenzen sind problematisch, weil sie das Terrain verflachen und damit Sprachen, Kulturen und Kontexte so betrachten, als wären sie gleich; es geht nur darum, Zugang und Zutritt zu einem Gebiet zu bekommen oder bestenfalls einen „Dialog“ zu führen – auch wenn dieser aus einer Machtposition initiiert wird. Diese Sichtweise ignoriert die Machtdynamiken oder die Hierarchien zwischen Menschen, Orten und Sprachen, zwischen Übersetzer*innen und Autor*innen. Diese Machtverhältnisse haben die Bedeutung des Übersetzens historisch geprägt und nehmen immer noch Einfluss auf sie. In der Einleitung von Violent Phenomena sprechen wir über die Beziehung zwischen Kolonialismus und Übersetzen, die darauf zurückzuführen ist, dass es für kolonisierende Gesellschaften eine Notwendigkeit gab, zu verstehen, um herrschen zu können. Diese koloniale Beziehung manifestiert sich auch heute noch – so schreibt Mona Kareem in ihrem Essay über das Übersetzen und westliche Überwachung. Diese Dynamik spielt sich natürlich auch innerhalb von Nationalstaaten ab, einschließlich der ehemals kolonialisierten. Wissen ist eine weitere Manifestation von Gewalt und dazu gehört auch, die eigene Perspektive als neutral zu verstehen, von der alles andere abweicht und frei zugänglich ist. Für Übersetzer*innen aus kolonialisierten Gesellschaften besteht die Gefahr, in die Rolle eines „native informant“ zu geraten, also die Person zu werden, die ein „Fenster“ zu „anderen“ (geanderten) Kulturen, Sprachen und Literaturen öffnet.

Da das Übersetzen häufig in Machtverhältnisse verwickelt ist und mit einer Anspruchshaltung einhergeht, kann das Vorenthalten oder Nicht-Übersetzen eine Form des Widerstands sein. In ihrem Essay schildert Khairani Barokka das eindrucksvolle Beispiel eines Auftritts der balinesischen Dichterin und Theaterkünstlerin Cok Sawitri beim Ubud Writers and Readers Festival. Cok Sawitri trug einen unterhaltsamen Monolog über die Auswirkungen des Bali-Tourismus in Indonesisch und Balinesisch vor, der nur an bestimmte Zuhörer*innen gerichtet und nicht übersetzt wurde.

Gleichzeitig können Übersetzung aber auch nützlich sein. Der Aufsatz von Yogesh Maitreya in Violent Phenomena ist wichtig, um die Bedeutung von Übersetzungen in nicht-hierarchischen Kontexten innerhalb Indiens und auf internationaler Ebene aufzuzeigen. Er spricht über die Kommunikation zwischen indischen Sprachen und Staaten sowie über die Verbindungen zwischen Dalit-Autor*innen und Schwarzen Schriftsteller*innen. Übersetzungen können den Dialog fördern. Sie können dazu beitragen, der dominanten literarischen Perspektive der oberen Kaste entgegenzuwirken, sowohl auf dem Subkontinent als auch im Westen. Doch gilt hier Vorsicht, damit die oberen Kasten oder der Westen nicht in eine Erzählung abrutschen, in der sie Dalits mit ihren Übersetzungen und Veröffentlichungen „retten“. Dalits sollten nicht bevormundet, fetischisiert oder zu Waren gemacht werden, denn auch das ist eine Form der Entmenschlichung, der Gewalt. Die Übersetzung von Literatur im Rahmen von historischem und anhaltendem Widerstand und Aktivismus, Respekt und Engagement für Gleichberechtigung und Empowerment ist wichtig, ebenso wie das ständige Hinterfragen, warum wir etwas tun und wie wir es tun.

Als Übersetzer*innen tragen wir Verantwortung für unsere Arbeit. Hast du Vorschläge, wie Übersetzer*innen sich bewusst positionieren oder diese Verantwortung in ihrer Übersetzungspraxis zum Ausdruck bringen können?

Darüber habe ich selbst schon viel nachgedacht, da ich als Übersetzerin aus einer höheren Kaste das Werk einer Dalit-Schriftstellerin übersetzt habe; es ist wichtig, dies nicht zu übergehen oder es nur oberflächlich oder symbolisch anzuerkennen.

Übersetzer*innen können durchaus anders positioniert sein als die Autor*innen, die sie übersetzen, aber es ist wichtig, sich mit den größeren Strukturen und den politischen Rahmen auseinanderzusetzen, in meinem Fall z.B. in den Widerstandskampf gegen das Kastensystem einzutauchen, über die Perspektive der oberen Kasten nachzudenken und darüber, wie sie verinnerlicht wurde. Es ist eine andauernde Reise, diese Perspektive zu hinterfragen, und ich muss akzeptieren, dass ich wahrscheinlich nie ein völlig kastenfreies Denken erreichen werde, während ich mich gleichzeitig der Reise verpflichtet fühle.

Außerdem gilt es anzuerkennen, dass das, was ich tue, nicht neutral oder objektiv ist. Es ist sehr subjektiv und hängt mit meiner Positionierung zusammen, aber auch mit dem, was ich von den Strukturen der Welt aufgesogen und verinnerlicht habe. Für eine verantwortungsvolle Praxis müssen wir also den spezifischen Kontext, aber auch uns selbst und das, was wir mitbringen, verstehen. Hinterfragen, Zuhören und Reflektieren ist wichtig. Und wir müssen offen dafür sein, kritisiert und in Frage gestellt zu werden.

Diejenigen von uns, die Privilegien haben, sollten darüber nachdenken, diese zu teilen. Wir sollten nicht die Rolle von Torhüter*innen einnehmen, sondern Wissen, Verbindungen und Möglichkeiten teilen und Platz machen. Im Grunde genommen sollten wir anderen mehr Raum geben, anstatt uns selbst in den Mittelpunkt zu stellen.

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