„Ausdifferenzierung ist die Voraussetzung für Bündnisse“: Ein Interview mit Judith Coffey über Gojnormativität
Judith Coffey und Vivien Laumann kritisieren, dass Antisemitismus und jüdische Perspektiven bisher häufig Leerstellen in intersektionalen Debatten darstellen. Ende 2021 veröffentlichten sie ihr Buch Gojnormativität, um jüdische Positionen artikulierbarer und sichtbarer zu machen. Wir durften mit Judith Coffey über Gojnormativität, das Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus, Weißsein und solidarische Bündnisse sprechen.
Wir sprechen heute über ein paar Aspekte eures Buches Gojnormativität. Kannst du zu Beginn erzählen, wie ihr auf den Begriff gekommen seid und was er bedeutet?
Gojnormativität ist analog zu Heteronormativität gebildet. Goj ist die Bezeichnung für Nicht-Juden*Jüdinnen aus jüdischer Perspektive. Wir haben uns gefragt, warum es in Bezug auf Antisemitismus nicht üblich ist, die dominante, nicht-jüdische Position zu markieren, so wie es bei Heteronormativität passiert oder bei Critical Whiteness. Gerade in Deutschland in einer post-nationalsozialistischen Gesellschaft ist es eigentlich absurd, wenn es dafür keine Begriffe gibt – also Begriffe für gojische Privilegien, wie z.B. eine Familienbiografie ohne Verfolgung und Ermordung. Wir haben uns auch deshalb für Gojnormativität entschieden, weil es uns wichtig ist, die strukturellen Aspekte in den Fokus zu rücken und nicht in einer individualisierenden Weise über Privilegien zu sprechen. Gojnormativität beschreibt das Verhältnis zwischen Juden*Jüdinnen und Gojim.
Vivien Laumann und du, ihr verortet euch im deutsch-österreichischen und im queerfeministischen Kontext. Inwiefern prägen diese verschiedenen Kontexte euer Konzept von Gojnormativität? Und denkt ihr, dass er auch über diese Kontexte hinaus anwendbar ist?
Dass wir uns vor allem auf queerfeministische und linke Kontexte beziehen, hat damit zu tun, dass wir uns da verorten und dass das die Zusammenhänge sind, in die wir intervenieren wollen. Aber der Begriff Gojnormativität ist auf jeden Fall darüber hinaus anwendbar, gerade wenn es eher um eine hegemoniale deutsche Erinnerungskultur geht. Für uns war es wichtig zu sagen, an wen wir uns in dem Buch richten. Es gibt schon einiges an Kritik an Erinnerungsdiskursen, aber wir wollten schauen, was in linken, queerfeministischen Kontexten passiert, weil wir uns gefragt haben, wie es sein kann, dass in diesen Kontexten die Diskussion um Antisemitismus so schräg läuft. Wie kann es sein, dass Antisemitismus oft gar kein Thema ist oder wegdefiniert, bagatellisiert oder für unwichtig erklärt wird?
In Bezug auf den deutsch-österreichischen Kontext: Wir finden es wichtig, spezifisch zu sein. Eines der Argumente, die wir im Buch starkmachen, ist, dass wir, wenn wir über Intersektionalität sprechen, überlegen müssen, was spezifisch für den deutschen oder österreichischen Kontext ist. Welche Aspekte spielen in einer post-nationalsozialistischen Gesellschaft eine Rolle, die in den USA zum Beispiel keine Rolle spielen? Wie sind Hierarchielinien historisch anders gelagert?
Weil wir von Gojnormativität sprechen und nicht von Christo-Normativität, hat das Konzept vielleicht das Potenzial, auch zum Beispiel in muslimisch geprägten Gesellschaften die Frage zu stellen, was der Platz des Jüdischen ist (oder der Nicht-Platz des Jüdischen). Aber ich fände es zu pauschal zu sagen, dass Gojnormativität überall ein relevantes Analysewerkzeug sein kann. Unser Buch ist eine Einladung an Leute, diesen Begriff der Gojnormativität zu nehmen, ihn weiterzudenken und zu überlegen, was er für ihren Kontext bedeuten könnte.
Wir geben in dem Buch absichtlich keine Anleitungen, wie Gojnormativität praktisch in unterschiedlichen Zusammenhängen kritisiert werden kann. Es geht darum, erst mal die Fragen wahrzunehmen und dann in eine Auseinandersetzung zu gehen. Es wäre schön, wenn Leute mit dem Begriff Gojnormativität produktiv weiterarbeiten könnten.
Kannst du erklären, warum der Begriff Gojnormativität notwendig ist? Reicht Antisemitismus nicht aus?
Wir wollen auf keinen Fall den Begriff oder die Analyse von Antisemitismus ersetzen. Wir denken die beiden Begriffe eher so wie die Beziehung zwischen Rassismuskritik und Critical Whiteness. Antisemitismus ist sicherlich auf eine Art das größere Thema, weil es das Herrschaftsverhältnis ist. Zusätzlich ist Antisemitismus auch ein Welterklärungsmodell, eine tief verankerte ideologische Grundlage der deutschen und österreichischen Gesellschaft – und darüber hinaus. All das kann der Begriff Gojnormativität nicht erfassen.
Was wir mit der Einführung von Gojnormativität erreichen wollen, ist – wie bei Critical Whiteness – den Blick auch auf die meist unsichtbare und unmarkierte dominante Position zu richten und die Leute, denen diese Position gesellschaftlich zugewiesen wird, dazu aufzurufen, darüber nachzudenken, was das bedeutet.
Gleichzeitig wollen wir jüdische Perspektiven stärker in den Fokus rücken. Denn es gibt eine Tendenz, über Antisemitismus entweder als ein rein abstraktes ideologisches Konstrukt zu sprechen oder Antisemitismus in die Vergangenheit zu projizieren und implizit anzunehmen, dass Antisemitismus nur während des Nationalsozialismus passiert ist und jetzt gibt es ihn vielleicht noch bei Nazis oder Rechten, aber es ist nichts, wovon Leute heute konkret betroffen sind. Diese Betroffenheit und die Notwendigkeit, die Betroffenen zu hören, wollen wir damit starkmachen.
Die Idee, dabei den Begriff Goj zu verwenden, basiert darauf, dass damit die dominante Position aus einer jüdischen Position bezeichnet wird. Es ist sozusagen eine jüdische Fremdbezeichnung für die dominante Position. Es gibt also eine Verschiebung: Wer benennt eigentlich wen, wer nimmt sich heraus auf wen zu blicken?
In eurem Buch sprecht ihr an vielen Stellen das Verhältnis zwischen Antisemitismus und Rassismus direkt an – kannst du kurz auf Parallelen, Verschränkungen und Unterschiede eingehen?
Ja, klar. Statt Parallelen würde ich eher von Zusammendenken sprechen. Wir machen das, weil wir problematisch finden, dass über Rassismus und Antisemitismus oft in völlig unterschiedlichen Kontexten und mit unterschiedlichem Vokabular gesprochen wird. Wir nutzen das, was uns in anderen Zusammenhängen sinnvoll scheint, um zu schauen, was wir daraus für die Auseinandersetzung mit Antisemitismus lernen können. Trotzdem würde ich immer sagen, dass es im Umgang mit allen Formen von Diskriminierung oder Machtstrukturen wichtig ist, spezifisch zu bleiben.
Antisemitismus geht eben nicht ganz auf in Rassismus. Es gibt rassistische Formen von Antisemitismus, aber es gibt zum Beispiel auch sehr starke verschwörungsideologische Tendenzen, die in die meisten Rassismusdefinitionen nicht reinpassen.
Wenn man von Antisemitismus nur als Unterkategorie von Rassismus spricht, geraten vor allem die Betroffenen wiederum aus dem Blick. Bei Rassismus denken die meisten Leute nicht an Juden*Jüdinnen als Betroffene. Und manchmal – und das wäre jetzt die Kritik – scheint es eher so, dass es eigentlich um etwas anderes geht als um die Frage nach der besten Analysekategorie, wenn Leute ganz vehement darauf bestehen, Antisemitismus als eine Form von Rassismus zu definieren. In solchen Fällen schwingt eher das antisemitische Bild mit, dass Juden*Jüdinnen ein Extra wollen, eine eigene, besondere Kategorie. Denn gleichzeitig wird in Bezug auf andere Diskriminierungsformen ganz oft daran gearbeitet, neue Begriffe zu schaffen, die das jeweilige Machtverhältnis genauer beschreiben können, wie z.B. Antimuslimischer Rassismus.
Im deutschen Kontext hat sich für Menschen, die von Rassismus betroffen sind, der englischsprachige Sammelbegriff BIPOC (Black Indigenous People of Color) etabliert. Ich habe dazu mal eine Diskussion auf Twitter verfolgt, bei der Max Czollek meinte, BIJPOC wäre für den deutschen Kontext besser (also Black, Indigenous, Juden*Jüdinnen und People of Color). Malcolm Ohanwe hat dann Folgendes vorgeschlagen: „SOJARIME: Schwarze, Osteuropäische, Jüdische, Asiatische (West, Ost, Süd-asiatisch), Roma, Indigene, und/oder als Muslimisch rassifizierte sowie andere ethnifizierte Minderheiten.“ Es scheint ihnen beiden um eine Spezifizierung zu gehen. Ist das etwas, das dich und Vivien Laumann ebenfalls interessiert?
Ja, genau, es geht uns um eine Spezifizierung und gleichzeitig darum, die Frage zu stellen, warum es so viele Widerstände dagegen gibt, Antisemitismus zu benennen. An den konkreten Formen, wie die Spezifizierung dann geschieht, hängt uns nicht so viel.
Vor kurzem hatten wir eine super interessante Diskussion, in der eine Person gefragt hat: „Wieso verwendet ihr nicht den Begriff POC so, wie er mal gedacht war, nämlich als ein Überbegriff für alle, die rassifiziert werden?“ Dazu würde das klare Verständnis gehören, dass Juden*Jüdinnen in Deutschland und Österreich darunterfallen. Ich habe im Prinzip nichts dagegen, das so zu machen. Ich habe Sympathien für den POC Begriff. Aber der Begriff wird aktuell nicht so verwendet. In den allermeisten Fällen werden Juden*Jüdinnen momentan nicht mitgemeint, wenn von POC die Rede ist. Das ist okay und ich muss mich da nicht hineinreklamieren, aber dann brauchen wir eben eine andere Form der Bezeichnung für die Position, die Juden*Jüdinnen einnehmen.
Eine eurer Leitfragen in Gojnormativität lautet, wie das Verhältnis von Weißsein und Jüdischsein gedacht werden kann. Warum ist diese Frage zentral für euch und welche Antworten habt ihr gefunden?
Zentral ist sie tatsächlich, weil sie uns im Diskurs zentral erscheint. Gerade wenn es um intersektionale Debatten geht, werden Juden*Jüdinnen oft der weißen Position zugeordnet – in den USA sowieso, aber zunehmend auch im deutschen Kontext. Unser Ausgangspunkt war, das sehr problematisch zu finden. Es gibt einen Punkt, der eigentlich völlig offensichtlich ist: Egal was für einen Begriff von Weißsein man hat, es sind nicht alle Juden*Jüdinnen weiß. Dabei handelt es sich um eine sehr bemerkenswerte Ausblendung. Es wird eine Homogenisierung von Juden*Jüdinnen vorgenommen, um sie aus der Gruppe der Diskriminierten herauszuschreiben und sie der dominanten, privilegierten Gruppe zuzuordnen.
Wir sehen uns das im Buch aus verschiedenen Perspektiven an, auch in Bezug auf Intersektionalität und die Definition von Intersektionalität. Wenn es im Intersektionalitätsdiskurs einen Fokus auf Race, Class und Gender gibt, dann haben Juden*Jüdinnen an sich, von den Kategorien her, schon eine ambivalente Position. Um da weiterzukommen, ist Begriffsarbeit nötig, das Nachdenken über diese Kategorien und was Jüdischsein eigentlich ist – nämlich nicht einfach nur eine Religion.
Andererseits schauen wir uns an, welche antisemitischen Bilder aufgerufen werden, wenn Juden*Jüdinnen homogen als weiß und privilegiert markiert werden. Da geht es um Vorstellungen von jüdischer Macht, jüdischem Agieren im Verborgenen, also ganz alte antisemitische Stereotype. In einem zusätzlichen Twist wird das dann auf Israel projiziert, was in einer Extremausprägung dazu führt, dass Israel als white supremacist state bezeichnet wird. Aus der Sicht von white supremacists sind Juden*Jüdinnen aber auf gar keinen Fall weiß. D.h. das ist ein aktiver Entzug von Solidarität, eine reale Gefährdung.
Kann ich noch mal auf den ersten Punkt der Intersektionalität zurückkommen? In eurem Buch erwähnt ihr doch intersektionale Bündnissen in Deutschland in den 1990ern, die versucht haben, jüdische Positionen miteinzubeziehen und bei denen es dementsprechend dann nicht nur um Race, Class und Gender ging, oder?
Es gab auf jeden Fall Versuche, Bündnisse zu schließen. Aber das Interessante ist, dass einige der jüdischen Aktivist*innen, die damals dabei waren, heute sagen, dass die Versuche gescheitert sind. Dazu gibt es ein Unterkapitel im Buch. Wenn man sich die Dokumentation dieser Bündnistreffen anschaut, wurde die Berechtigung der Teilnahme von Jüdinnen immer in Frage gestellt. Es wurde nicht darüber diskutiert, auf welche Weise Bündnisse eingegangen werden könnten, sondern, ob Jüdinnen überhaupt mitmachen dürften, obwohl sie weiß seien. Das ist an sich schon eine problematische Fragestellung, die nicht auf Augenhöhe stattfindet.
Mit unserem Buch wollen wir nicht irgendwelche Dinge gegeneinander aufrechnen oder auch nur gleichsetzen. Tatsächlich können sich säkulare Juden*Jüdinnen, die weiß gelesen werden, im Alltag oft sicher bewegen und sind keinen rassistischen Angriffen ausgesetzt. Es ist wichtig, die Unterschiedlichkeit von Erfahrungen mitzudenken und sie zu benennen. Aber es ist auch wichtig zu betonen, dass es sich dabei immer nur um eine vermeintliche Sicherheit handelt. Für Juden*Jüdinnen kann es nie die gleiche Selbstverständlichkeit geben wie für weiße Gojim. Das Aufgehen in der weißen Masse ist fragil und kann jederzeit kippen.
Ein regelmäßiger Vorwurf gegen neue Begrifflichkeiten ist, dass sie zu Zersplitterung führen und es schwerer machen würden, Bündnisse zu schließen. Ihr sprecht euch aber mit Gojnormativität für neue Bündnisse aus, wie soll das funktionieren?
Eine Ausdifferenzierung ist eigentlich die Voraussetzung für Bündnisse und kein Hindernis, denn sie macht es überhaupt erst möglich, sich auf Augenhöhe zu begegnen. Ein Problem in den 1990ern war zum Beispiel, dass es damals nur die Kategorie Schwarz gab. Das war ein Sammelbegriff, den viele Juden*Jüdinnen sehr schwierig fanden. Sich als Schwarz zu verorten war irgendwie anmaßend und nicht passend. Wir müssen erst mal wissen, wo wir selbst stehen, um dann Bündnisse eingehen zu können. Letztendlich ist das Positionieren dann eine Praxis, die wir erlernen müssen, also alle.
Vor allem wünschen wir uns, dass es mehr Auseinandersetzung mit Antisemitismus gibt, auch und vor allem mit den eigenen antisemitischen Bildern und Argumentationen. Das ist eine Voraussetzung dafür, dass Bündnisse funktionieren können, ohne dass sie immer wieder zu Verletzungen führen.