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(Un)zumutbar für wen? Deutscher Kolonialismus in Abdulrazak Gurnahs Roman Afterlives

A black square with the cover of Abdulrazak Gurnah's novel on the left side and a black and white headshot of Gurnah himself on the right side

(Un)zumutbar für wen? Deutscher Kolonialismus in Abdulrazak Gurnahs Roman Afterlives

„Die Deutschen sind ehrbare und zivilisierte Menschen, die in ihrer Zeit hier viel Gutes getan haben.“

„Mein Freund, sie haben dich verschlungen.“


Abdulrazak Gurnah, Afterlives (London: Bloomsbury, 2020), 42.

Afterlives, von Abdulrazak Gurnah, beleuchtet eine Reihe von miteinander verwobenen „Lebenswegen“ im Deutsch-besetzten Afrika. Der teutonophile Ilyas, der freiwillig der Schutztruppe beigetreten ist, Hamza, der von einem Militäroffizier unter die koloniale Fittiche genommen wurde, und seine Ehefrau – Ilyas‘ Schwester Afiya, die ihren Bruder vor allen Dingen dafür liebte, dass er sie aus einem Leben voller Missbrauch und Schinderei „gerettet“ hatte. Gurnah veranschaulicht die Schicksale dieser Menschen und verknüpft sie mit historischen Ereignissen der deutschen Kolonialgeschichte. Er porträtiert diese Figuren als Individuen, deren Geschichten sich zwar kreuzen, die aber dennoch eigenständig erzählt werden – und er verortet sie in einem unbestreitbaren historischen Geflecht, das zumindest in Deutschland lieber ignoriert wird. Ich postuliere, dass es für weiße Deutsche notwendig ist, ihre koloniale Geschichte und ihre Rolle im globalen Kolonialismus anzuerkennen. Die Anerkennung der kolonialen Brutalität sollte keine Entscheidung sein, die davon abhängt, welche zusätzlichen Sünden für eine deutsche Person in Bezug auf ihre Vergangenheit „zumutbar“ sind oder nicht, sondern vielmehr eine, die die Folgen der besagten Brutalität im globalen Süden berücksichtigt.

„Deutschland weigert sich aus einer Vielzahl von Gründen, über seine Kolonialgeschichte zu sprechen“, so Gurnah bei einer Veranstaltung für Africa Writes über die Verortung seiner Romanfiguren. „Zum einen hat Deutschland mit dem Vertrag von Versailles alles verloren. Zum anderen aber auch deshalb, weil so vieles davon so unglaublich hässlich ist. Ländern wie Frankreich und Großbritannien ist es gelungen, ihre eigene koloniale Geschichte neu zu schreiben, die Eisenbahnen, die Bildung, die Errungenschaften. Vom deutschen Kolonialismus hingegen ist nur die Hässlichkeit und Brutalität in Erinnerung geblieben. Und das ist für das moderne Deutschland problematisch – der Umgang mit dieser Brutalität.“ Er fügte hinzu, dass diese Geschichte in gewissem Sinne durch die Schrecken des Zweiten Weltkriegs überlagert wurde. Es sei „schon schwierig genug“, die Menschen zur Auseinandersetzung mit den Grausamkeiten des Landes im Zweiten Weltkrieg zu motivieren, auch „ohne dass man ihnen sagt, dass sie das alles auch schon damals den Afrikanern angetan haben.“

Gurnah verknüpft seine Figuren in einem meisterhaften Spiel mit dem Begriff der “Zumutbaren” Bei keiner seiner Figuren handelt es sich um historisch bedeutende Akteure, selbst die deutschen Offiziere haben einen verhältnismäßig niedrigen Rang, und Hamza und Afiya bewegen sich durch einen fast belanglosen Alltag. Die Bezüge zur Kolonialgeschichte werden in handlichen Häppchen vermittelt: Hamza wird von seinem vorgesetzten Offizier in der deutschen Sprache unterrichtet, Ilyas schließt sich der Schutztruppean und begründet dies damit, dass die Deutschen für das Wohl der Nation eintreten würden, und Afiya erhält einen Liebesbrief in Form eines Schiller-Gedichts. Diese Momente sind trotz ihrer Tragik durchaus auszuhalten. In ihrer Gesamtheit veranschaulichen sie jedoch die Allgegenwärtigkeit des deutschen Kolonialismus und seine Auswirkungen nicht nur auf die askarischen Truppen, sondern auch auf Menschen wie Afiya, die in ihrem Leben nie ein Wort Deutsch gesprochen hat.

Der Roman beleuchtet vor allem bei Ilyas, aber in einem geringeren Ausmaß auch bei Hamza und Afiya, die postkoloniale Identität von Menschen aus ehemals von Deutschland besetzten Gebieten. Die Menschen, die zwar die deutsche Sprache beherrschten, aber nicht zu Deutschland “gehörten“, Menschen, die in Liebesbriefen Schillers Gedichte übersetzten, aber niemals deutschen Boden betraten. Unabhängig vom damaligen Kolonialismus unterhält Deutschland immer noch Schulen und leitet im gesamten globalen Süden geschmackvolle „Bildungsmissionen“. Ich verwende den Ausdruck „geschmackvolle“, weil diese deutschsprachigen Schulen heute nur als Teil globaler Programme für Öffentlichkeitsarbeit gesehen werden, wobei ihre ambivalente Position nicht unbedingt auf die gleiche Weise beurteilt wird wie die britischen Schulen im Ausland. Wo gehören aber jene Studenten aus dem globalen Süden hin, die zwar auf Deutsch lernten und dachten, aber weder nach Deutschland gehörten noch dorthin kommen würden, nicht deutsch waren, keine gegenwärtige Identität besaßen und von nicht deutschen Westler*innen einfach als Teutonophile bezeichnet wurden? Die von Gurnah beschriebene Zivilisierungsmission, die ihre Hände in Unschuld wäscht, entspricht einer Praxis, die in geringerem Maße auch heute noch Anwendung findet – nicht nur bei den Deutschen, sondern auch bei den Französ*innen, den Niederländer*innen und den Brit*innen.

Es zeugt von der bewusst gewählten Zumutbarkeit von Afterlives, dass die Grenzen zwischen dem Menschlichen und dem Unmenschlichen fließend sind. Hamzas kommandierender Offizier mag zwar brutal und militaristisch sein, sieht in ihm aber etwas von seinem Schiller liebenden Bruder und bringt ihm deshalb Deutsch bei. Ein anderes sympathisches deutsches Ehepaar, der Pastor und seine Frau, nehmen den verletzten Hamza bei sich auf und ermöglichen es ihm, bei ihnen zu genesen, während sie selbst unterschwellig bigotte Ansichten vertreten. Die deutschen Charaktere schwanken zwischen gütig und brutal und beweisen, dass keine Unterscheidung zwischen Mensch und Unmensch gemacht werden kann, nur die der Macht. Die Individuen, die den Kolonialmächten angehörten, können liebenswürdig sein – allerdings ausschließlich zu ihren Bedingungen und auch nur dann, wenn sie es wollen.

Vergangenheitsbewältigungist eine weitreichende und verantwortungsvolle Aufgabe. Es geht nicht nur darum, die Schrecken des Holocaust aus einem distanzierten historischen Blickwinkel zu betrachten – stattdessen akzeptiert und bewertet die Nation die Schuld von Hunderten und Tausenden von „normalen Menschen“ im Zusammenhang mit solchen Gräueltaten. Aber wäre es wirklich so schwierig, diese Definition zu erweitern und auch die Mitschuld vieler Deutscher an den kolonialen Grausamkeiten zu untersuchen? Gurnah macht deutlich, dass dies nicht unmöglich ist. Es mag sein, dass einige der Offiziere nett waren, und vielleicht war es gut, dass Hamza Deutsch gelernt hat. Doch der Deutschunterricht war immer auch ein lustiges Spiel für die Soldaten. Vielleicht half der Feldwebel Hamza bei seiner Verletzung. Aber Hamza wachte Jahre später immer noch voller Schrecken auf und träumte von dem unheilvollen, würgenden Gefühl, das sein Befehlshaber in ihm auslöste. Vielleicht hatte der Oberleutnant Bedenken hinsichtlich der Zivilisierungsmission- aber Hamza wusste, dass diese Bedenken nicht ihm galten, und dass sie keinen Einfluss darauf hatten, wie der Offizier ihn behandelte.

Gurnah schilderte die Geschichte von Bayume Mohamed Husen, dem afrodeutschen Soldaten und Schauspieler, der wegen „Rassenschande“ im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert wurde. Er erklärte, dass seine Lebensgeschichte nur eine Fußnote gewesen sei, bis ein Dokumentarfilm sein Leben porträtierte – ein Teil einer verschwiegenen Geschichte, aufgezehrt von der Weigerung, die Brutalität der Geschichte anzuerkennen. Dass auch hier Verbindungen zu den Gräueltaten des Holocaust und den faschistischen Überzeugungen der Nazis bestanden. Und doch bleiben sie meist unbeachtet im historischen Kontext, geleitet von der Scham derjenigen, die ein Eingeständnis als „unzumutbar“ empfinden. Dieses Ausblenden von Teilen der Geschichte, weil es davon bestimmt wird, wer was ertragen kann, ist ein bewusster Akt, gegen den sich heutzutage zahlreiche Schwarze deutsche Wissenschaftler*innen einsetzen.

Afterlives wird durch die Abwesenheit von Ilyas zusammengehalten, der durch Ephemera vorgestellt wird, die mit historischen Ereignissen in Verbindung stehen. Briefe, politische Stellungnahmen, Uniformen. Und schließlich die Ausgrabung eines Lochs in Form von Ilja, in der wahrscheinlich meistbesprochenen Periode der deutschen Geschichte. Ilyas wird als Leerstelle dargestellt, als eine Abfolge von Abwesenheiten, die nur durch seine Beziehungen zu denen, die ihn liebten, beschrieben werden. Die Darstellung der Figur verdeutlicht, wie das Zumutbare von demjenigen, der es zu ertragen hat, selbst konstruiert und definiert wird. Die Tragödie des deutschen Kolonialismus und Rassismus ist für die deutsche Öffentlichkeit unzumutbar. Für Ilyas‘ Familie und für die Familie von Bayume Mohamed Husen ist sie etwas, das ertragen werden muss.

Gurnah zeigt sehr deutlich die Ungewissheit darüber, was das „zu ertragende Etwas“ ist. Ilyas‘ Geschichte – seine Verhaltensweisen, seine Freundlichkeit, seine Besessenheit – wird durch die Augen der Menschen erzählt, die ihn liebten. Nach seinem Verschwinden wird die von den Deutschen aufgezeichnete und von seinem Neffen rekonstruierte Geschichte jedoch auf zwei Seiten eingegrenzt. Sein Beruf, sein „Verbrechen“ einer einer im Naziverständnis „gemischtrassigen“ Beziehung und sein Tod in einem Konzentrationslager. Gurnah veranschaulicht auf prägnante Weise den Preis der Aufarbeitung der Vergangenheit, die sich dadurch definiert, was ein Deutscher ertragen konnte oder auch nicht – die Ausgrenzung von Leben an den Rand und die Unfähigkeit, Worte zu finden, um das Trauma der eigenen Generation zu beschreiben.

„Wir können also mit Sicherheit sagen, dass jemand Onkel Ilyas so sehr liebte, dass er ihm in den sicheren Tod in ein Konzentrationslager folgte, nur um ihm Gesellschaft zu leisten.“

Gurnah, Afterlives, 275.

Was nicht heißen soll, dass diese marginalen Leben bedeutungslos waren. Für mich war Ilyas Afterlives – seine Anwesenheit zog sich wie ein roter Faden durch den gesamten Roman und verband Leben und Geschichten miteinander. Und dieser rote Faden zog sich bis zum Ende der Geschichte durch, wo man Ilyas ausdrücklich als Onkel Ilyas bezeichnete. Am Ende seines Romans unterstreicht Gurnah die Bedeutung von Menschen wie Onkel Ilyas: Sie wurden geliebt, man sorgte sich um sie und sie nahmen im Leben derer, die sie hinterließen, einen großen Platz ein. Und genau das ist das Unzumutbar an Afterlives. Der Schock über die Abwesenheit, das Zusammenbrechen des Gebildes, das um diese Leben aufgebaut wurde, das Fehlen einer Erklärung für den Verlust – das ist unzumutbar.

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