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Tulsi

Tulsi

Sie starrte die Pflanze so lange an, dass ihr angestrengter Blick einen dauerhaften Abdruck auf ihrer weichen Kinderstirn erzeugte. Mit einem schweren Seufzer und einem unheimlichen Unbehagen gruben sich ihre ungeschulten Finger in die Pflanzen. Plötzlich nahm ihre Nase einen stechenden Geruch wahr, der wohl von den herumliegenden toten Blättern stammte. Neben den Pflanzen hockend bemerkte sie die offensichtlichen Spuren von Pferde-Kuh-Kuh-Pferde-Hufen, die in die Erde gedrückt waren. Diese Abdrücke konnte ihr naives Herz leicht erkennen und verstehen. Was sie nicht verstehen konnte, war der vorzeitige Tod der Tulsi-Pflanzen in ihrem Hof zur Monsunzeit. Noch seltsamer war das Gefühl, dass die schwärzlichen Blätter und der Verwesungsgeruch ihr so unendlich vertraut waren. Der Tod der Pflanzen hatte etwas an sich, das in ihr sowohl Neugierde als auch Unbehagen hervorrief.

„Liegt es am Namen oder an etwas Ungreifbarerem und tiefer Verwurzeltem, dass ich solche Gefühle für diese spezielle Pflanze habe?“, fragte sie sich, als der hämmernde Klang eines Messingeimers sie ihrem inneren Monolog entriss.

„Tulsi…., O, re, Tulsi….“, die Einladung in der Stimme ihrer Großmutter ließ zwei Personen im Haus gleichzeitig antworten. Aber beide kannten ihre der Tageszeit entsprechenden Pflichten und reagierten daher unterschiedlich. Die Mutter hatte die Hinterbeine der Kuh mit einem schmierigen Strang festgebunden, um sie zu melken. Das Mädchen, das auf den Ruf reagierte, rannte eilig in die Küche, um einen Becher zu holen, und ignorierte ihre Großmutter, die auf ihrem Charpoy saß und ihr Zahnfleisch mit einem sehr starken Tabakpulver massierte. 

Tulsi ist das jüngste Kind in der Familie. Der Name wurde ihr von ihrer Großmutter gegeben, die immer sagte: „Sie roch einfach nach der Tulsi-Blüte, als sie geboren wurde, als wäre sie von Geburt an in sie verliebt gewesen“.

„Als ihre Mutter das Haus zum ersten Mal nach ihrer Heirat betrat, hatte ich den gleichen Duft im Haus gespürt, Radhe…. Radhe…. Ich habe zwei Tulsis in meinem Haus. Ich werde nach meinem Tod direkt auf Lord Krishnas Schoss landen“, beendete sie den Satz jedes Mal mit einem Gefühl von Verlusts.

Tulsis Mutter heiratete viel zu jung – sie war erst fünfzehn Jahre alt. Als der unerfüllte Wunsch, mit Puppen zu spielen, langsam zu schwinden begann, bekam sie ihre eigene lebende Puppe. Tulsis Vater wollte einen Jungen, und als Tulsi geboren wurde, zeigte er keine Gefühle – weder Freude noch Trauer. Seine Apathie brachte Mutter und Tochter einander noch näher. Als ihre Schwiegermutter dem Mädchen den Namen Tulsi gab, verspürte sie sofort einen noch stärkeren Wunsch, sie zu beschützen, denn nun erhielt ihre Tochter den gleichen Namen wie sie. Die Kleine war nicht nur die Namensvetterin ihrer Mutter, sie lernte auch von Anfang an, jede ihrer Handlungen nachzuahmen.

Tulsi sah ihre Mutter nie lächeln. Sie erledigte akribisch alle Hausarbeiten, ohne sich zu beschweren. Manchmal sah Tulsi ihre Mutter die gleiche Arbeit so oft und immer wieder tun, als täte sie alles nur, um müde zu werden. Sie war so müde, dass sie, wenn der Vater von den Feldern zurückkam, ihn mit halboffenen Augen wie eine Leiche begleitete. Nach dem gemeinsamen Abendessen, einem stillen Ritual, sah Tulsi ihre Mutter mit traurigem Gesicht mit ihrem Vater ins Zimmer gehen. Aus ihr unbekannten Gründen konnte sie keine einzige Nacht mit ihrer Mutter verbringen. Ihr fehlte die Präsenz ihrer Mutter, was sie dazu veranlasste, mehr Zeit mit den Tulsi-Pflanzen im Hof zu verbringen. Sie sprach stundenlang mit den Pflanzen und atmete von ihnen denselben Duft von Fürsorge und Mitgefühl ein, den ihre Mutter an sich hatte.

Außer mit ihr selbst sah sie ihre Mutter nur glücklich, wenn sie sich um die Kuh kümmerte. Ihre Mutter verbrachte den halben Tag damit, die Kuh zu putzen, ihren Körper von Insekten zu befreien und sie in einen Eimer mit heißem Wasser zu legen, ihren Nacken mehrere Stunden am Stück zu massieren und dabei schweigend in die Leere zu schauen. Manchmal, wenn sie schweigend in Gedanken versunken war, zuckte die Kuh mit dem Hals, um sie aus dem Trancezustand herauszuholen. Tulsi liebte es, die Milch der Kuh zu trinken, weil sie immer das Gefühl hatte, dass die Milch auch die Liebe ihrer Mutter enthielt, da sie die Hälfte des Tages damit verbrachte, sich um sie zu kümmern. Tulsi begann zu glauben, dass sich die Herzenswärme ihrer Mutter auf die Milch übertrug, wenn sie die Kuh melkte und die frische Milch in ihren großen Kupferbecher goss.

So wusste sie jedes Mal morgens und abends, wenn sie das Klopfen des Eimers im Garten hörte, dass es Zeit war, die Kuh zu melken. Sie lief in die Küche, um ihr Glas zu holen, und setzte sich schweigend neben ihre Mutter. Ihre Mutter schüttete die frische, rohe Milch in ihren Becher und wartete, um ihr nachher den weißen Bart abzuwischen, der sich durch den Schaum der frischen Milch gebildet hatte.

„Amma! Ich werde jetzt mit Mohan spielen“, sagte Tulsi zu ihrer Mutter und wischte sich die Hände mit ihrem schmutzigen Kleid ab.

„Hmm!“ gab die Mutter als zustimmenden Laut von sich und sagte: „aber streite dich nicht mit ihm, er ist schließlich ein Junge.“

„Ha! Junge.“ Tulsi verzog die Mundwinkel und spottete: „er trinkt keine Kuhmilch wie ich Amma.“

„Accha, accha… sei zurück, bevor Baba von den Feldern kommt,“ sagte sie und streichelte dabei die Kuh.

Beschwingt sammelte Tulsi einige Lebensmittel aus der Küche in kleinen Diyaszusammen, nahm eine Flasche Milch, band ein kleines Stück Zuckerrohr an die Ecke ihres Kleides und packte ein Sesam-Ladoo ein, das ihre Mutter am Abend zuvor gemacht hatte. Ihre Vorbereitungen erfüllten sie mit einem Gefühl tiefer Zufriedenheit und sie war bereit mit ihrem besten Freund Mohan in der Nähe der Felder zu spielen. Beide waren übereingekommen, an diesem Tag Ghar-ghar zu spielen, ein hervorragender Zeitvertreib, bei dem Mohan die Rolle des Ehemanns spielte und Tulsi die der fügsamen Dame des Hauses.

„Ich kann mir vorstellen, dass Mohan sabbern wird, wie ein Welpe“, kicherte Tulsi, als sie auf die Felder ging. „Er weiß, dass ich jedes Mal Zuckerrohr mitbringe, aber Ladoo… Wir werden sehen, wer jetzt die Hosen anhat.“ Sie ging stolz mit erhobenem Kopf und geraden Schultern auf die Felder zu.

Mohan ist zwei Jahre älter als Tulsi, seine Nachbarin und seine einzige Freundin im Dorf. Sein Vater ist der Dorf-Barbier. Tulsi liebte es, mit ihm in den Laden seines Vaters zu gehen. Sie wurde immer von dem Psch-Psch der Sprühflasche angelockt, mit der Mohans Vater seinen Kunden Wasser in die Haare spritzte. Mohan erlaubte Tulsi, ihr Gesicht mit exotischem Puder zu betupfen.

„Tulsi…“ Mohan winkte ihr zu. Er stand an der Ecke des Feldes in einem schattigen Hain, wo sie immer zusammen spielten.

„Was hast du mir heute mitgebracht?“ Mohan konnte seine aufgeregte Vorfreude nicht verbergen.

„Warum hast du es so eilig?“ wies Tulsi ihn sehr direkt zurück. „Lass mich zuerst mein Haus einrichten. Wenn ich dich in mein Haus einlade, wirst du sehen, was ich dir heute mitgebracht habe.“

Sie begann Wasser aus einer Flasche auf den Boden zu spritzen, den Mohan bereits gefegt hatte. Sie spannte ein Bettlaken als Dach auf und richtete mit annähernder Perfektion eine Miniaturküche in ihrem Scheinhaus ein. Sie vergaß nicht, zuerst einige Basilikumblätter, die sie zu Hause gepflückt hatte, in die kleinen Tongefäße hineinzulegen, um sie zu reinigen. In dem Moment, in dem sie etwas mehr Wasser über die Diyas goss, strömte ein sehr angenehmer Geruch aus, der eine Reaktion der Basilikumblätter mit den Tontöpfchen war.

Sie goss etwas Wasser in ein Glas und etwas Milch in das andere. Nachdem sie das Stück Zuckerrohr in eine der Diyas gelegt hatte, was Mohan enttäuschte, legte sie stolz das Sesam-Ladoo in das letzte der mit Basilikumblättern bedeckten Diyas. Der süße Geruch des Ladoo veränderte Mohans Haltung. Nachdem sie einen letzten Blick auf ihre Vorbereitungen geworfen hatte, lud Tulsi Mohan in ihr Haus ein und öffnete eine imaginäre Tür. Sie tat es genauso, wie ihre Mutter die Tür öffnet, wenn ihr Vater von den Feldern zurückkommt. Doch anders als bei ihrem Vater waren Mohans Augen auf das Ladoo gerichtet.

„Du bist sicher müde. Lass mich dir etwas Wasser holen“, ahmte Tulsi sogar den Ton ihrer Mutter nach. Das Läuten der Glocken, die an die Hälse der schläfrigen Kühe gebunden waren, und das Gezwitscher der Vögel auf dem Feld bildeten den sinfonischen Hintergrund für ihr Spiel.

„Tapti gibt in letzter Zeit nicht mehr genug Milch. Besorg ihr mindestens zweimal in der Woche Grünfutter“, kommentierte Tulsi sarkastisch, während sie Mohan das Glas Wasser überreichte.

Er bewunderte immer den Einfallsreichtum seiner besten Freundin, jedes Gespräch konnte sie nachahmen. Tulsi gab sich einfach perfekt als ihre Mutter aus. Auch Mohan musste nun den Anforderungen des Spiels gerecht werden, und so antwortete er: „Ich werde hinüberlaufen und grünen Bündel Futter von Hariram besorgen.“

Tulsi schien mit der Antwort zufrieden und beide begannen das Spiel noch mehr zu genießen.

Nachdem sie Mohan das Abendessen serviert hatte, übergab sie ihm ruhig das Ladoo, und während Mohan damit beschäftigt war, die Süßigkeit zu verschlingen, stand sie nach ihrem kurzen Verschwinden, das Mohan nicht einmal bemerkt hatte, vor ihm.

Er sah sie groß an, nicht wegen des Ladoo, sondern eher wegen Tulsis Kleid. Sie hatte das grüne Tulsi-Dupatta ihrer Mutter mitgebracht, um ihren Kopf zu bedecken. Ohne etwas zu sagen, hielten sich Mohan und Tulsi an den Händen und gingen auf die andere Seite ihres Bettlaken-Hauses. Sie ahmten nach, wie ihre Mutter jeden Abend nach dem Abendessen mit ihrem Vater ins Zimmer ging.

Zu diesem Zeitpunkt hatten alle Vögel in ihre Nester zurückgefunden und die Abendsonne hatte rosa Farbe am Horizont verteilt. Der Abendwind wehte sanft und verbreitete ein Gefühl der Stille. Die Natur erschuf den Hintergrund für ihr Spiel.

Mohan und Tulsi saßen eine Weile gemütlich beisammen und hielten sich gegenseitig an den Händen. Da Tulsi nicht wusste, was ihre Eltern sonst noch taten, war sie mit dem glücklichen Ausgang des Spiels zufrieden.

„Sollen wir jetzt zum Ende in der Nachahmung deiner Eltern kommen?“, fragte Mohan neugierig.

Da Tulsi mit dem bisherigen Verlauf zufrieden war, schmiegte sie ihren Kopf einfach affirmativ an Mohans Schulter.

Mohan holte tief Luft, stand plötzlich auf und bevor Tulsi verstand, was los war, fing er an, mit dem Fuß auf ihren Rücken einzutreten. Mit seinem letzten Tritt fiel Tulsi hin und lag vor dem Tontöpfchen, das sie zu Beginn des Spiels angezündet hatte.

Tränen kullerten ihr von den Wangen und löschten die Flamme in dem Diya. Ein schwarzer, dämonischer Rauch stieg auf.

Wütend drehte sie sich zu Mohan um und rief mit tiefem Groll: „Ich habe Ladoo für dich mitgebracht und du verprügelst mich! Warum trittst du mich einfach?“

Verblüfft stellte Mohan plötzlich fest, dass es jetzt kein Spiel mehr war.

„Aber…. Aber… das ist doch das, was dein Vater mit deiner Mutter macht. Ich habe das schon oft von zu Hause aus gesehen. Wir haben ein Fenster, durch das ich direkt in ihr Zimmer gucken kann. Ich dachte, so zeigen Erwachsene ihre Liebe zueinander“, versuchte Mohan, sich zu rechtfertigen. „Ich würde dir niemals wehtun wollen, Tulsi. Das weißt du doch, oder?“

Mohans Worte schwirrten in Tulsis Kopf herum. Sie sah sich mit einem Strudel der Gewalt konfrontiert und ihre Mutter rief um Hilfe. Plötzlich sah sie, wie der Wind die Tulsi-Pflanzen auf ihrem Hof weggeblies. Sie waren vertrocknet und raschelten ganz unangenehm. Jetzt ergab alles plötzlich Sinn für sie.

„Deshalb habe ich Amma zu Hause noch nie lächeln sehen. Darum verwelken die Tulsi-Pflanzen ohne jeden Grund. Denn wenn Amma nicht glücklich ist, wie können die Pflanzen dann blühen?“ Sie hatte Mohan vergessen.

Sie sammelte alle zerbrochenen Diyas ein, band sie in das Dupatta ihrer Amma zusammen und rannte eiligst nach Hause.

Als sie den Hof erreichte, sah sie ihre toten Tulsi-Pflanzen. Nun kannte sie die Ursache für ihren vorzeitigen Tod. Nun kannte sie die innige Verbindung zwischen Pflanzen und Menschen. Jetzt wusste sie es…

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