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Strukturelle Transformation von Innen: Ein Interview mit Bernardine Evaristo

a picture of Bernardine Evaristo at She Said bookshop in Berlin

Strukturelle Transformation von Innen: Ein Interview mit Bernardine Evaristo

Letzte Woche war Bernardine Evaristo für das Internationale Literaturfestival Berlin (ilb) in der Stadt und wir hatten die einzigartige Gelegenheit, im She Said Buchladen mit ihr zu sprechen.

Vielleicht fangen wir damit an, wie dir Berlin gefällt: Konntest du ein Gefühl dafür bekommen, wie du hier als Schriftstellerin wahrgenommen wirst, wie die Leute deine Bücher lesen und ob es Unterschiede zu Leser*innen an anderen Orten gibt?

Ich bin gestern angekommen und fahre morgen nach Hamburg, es ist also diesmal nur eine Stippvisite. Ich mag Berlin und komme ab und zu hierher. Das erste Mal war ich in den 1980er Jahren hier und wohnte in Kreuzberg. Ich habe zwei Jahre lang die Seminare des British Council Berlin geleitet. Es ist eine wirklich interessante Stadt, in der es sich gut leben lässt, und meiner Erfahrung nach ist es auch eine freundliche Stadt. Bei den beiden Veranstaltungen, die ich gestern und heute hier gemacht habe, hatte ich ein tolles, sehr großes Publikum. Ich weiß nicht, ob deutsche Leser*innen auf andere Dinge achten als britische Leser*innen, aber ich fühle mich auf jeden Fall sehr wertgeschätzt.

Ich weiß, dass sich Mädchen, Frau, Etc. in Deutschland sehr gut verkauft hat. Ich wollte immer ins Deutsche übersetzt werden, weil es ein großer Markt ist. Mir wurde oft gesagt, wenn du ins Deutsche übersetzt wirst, kommen schnell weitere Länder dazu. Erst als ich den Booker Preis gewann, wurde ich in viele Sprachen übersetzt.

„Fast alle meine Bücher haben ein globales Element“

Kannst du noch etwas ausführen, welche Erfahrungen du mit dem Übersetzen gemacht hast? Oder damit, in andere sprachliche Kontexte einzutauchen? Du beschreibst deinen Roman The Emperor’s Babe als eine Intervention in eine spezifische Geschichte, die Großbritannien und Britischsein als weiß konstruiert. Macht Soul Tourists etwas ähnliches in Bezug auf Europa? Unterscheidet sich die Art der Intervention, wenn der Kontext kleiner oder größer ist?

Ja. Es ist interessant, denn wenn ich schreibe, dann schreibe ich nur die Geschichte, die ich schreiben muss. Ich schreibe nicht für das Publikum – das Publikum ist nämlich unvorhersehbar. Bis 2019 waren meine Leser*innen auf jeden Fall englischsprachig, weil meine Bücher noch nicht in Übersetzung erhältlich waren. Soul Tourists ist ein paneuropäisches Buch, und es wurde inzwischen in einige europäische Sprachen übersetzt.

Fast alle meine Bücher haben ein globales Element in sich. Nur eines meiner Bücher, Hello Mum, handelt ausschließlich von Großbritannien. Ansonsten beziehen sich alle Bücher auf andere Kulturen, sei es Afrika, Europa, Amerika oder die Karibik. In diesem Sinne sind sie alle international. Es gibt viele Autor*innen, die sich ausschließlich auf Großbritannien konzentrieren, und ihre Geschichten gehen nicht über Großbritannien hinaus. Aber da es in meinen Büchern meistens um die afrikanische Diaspora geht, gibt es immer ein Element, das von woanders herkommt, oder ich führe Leser*innen irgendwo anders hin. Selbst in The Emperor’s Babe, das im römischen London spielt, stammen die Eltern aus dem alten Nubien, dem heutigen Sudan. Der Kaiser, mit dem die Protagonistin eine Affäre hat, kommt aus Libyen, und der alte Mann, den sie heiratet, ist aus Rom. Das ist alles sehr international.

Über den Literaturbetrieb und Marginalisierung

Ich möchte als nächstes gerne zum Literaturbetrieb kommen, zum Kanon und der Beziehung zwischen einzelnen Schriftsteller*innen und den größeren Strukturen, von denen sie ein Teil sind. Du hast mal gesagt, dass du „innerhalb von Systemen arbeitest, um sie zu verändern, weil [du] glaubst, dass es eine Grenze für das gibt, was außerhalb der Machtstrukturen erreicht werden kann…“

Nun, ich habe mich im Laufe meiner Karriere immer mehr ins Zentrum des Literaturbetriebs bewegt. In meinen 20er Jahren war ich ohne jeden Zweifel noch außen vor, ich stand am Rand. Im Laufe der Jahre entwickelte sich meine Karriere und ich saß in Ausschüssen, schrieb für nationale Zeitungen und war Jury-Mitglied bei Preisverleihungen. Ich war schon lange Mitglied der Royal Society of Literature, bevor ich die Präsidentin des Vereins wurde. Seit 2011 bin ich Professorin. Es war also ein langwieriger Prozess, ins Zentrum zu gelangen. Seit ich den Booker Prize gewonnen habe, muss ich nicht mehr versuchen, hineinzukommen – ich bin jetzt drin. Für mich ist es sehr wichtig, dass ich nun Strukturen von innen heraus verändern kann.

Ich bin außerdem sehr daran interessiert, Brücken zu bauen und Beziehungen, Partnerschaften und Kooperationen mit Organisationen ins Leben zu rufen, die aus historischen Gründen vielleicht nicht als progressiv gelten. Camilla zum Beispiel, die jetzt die Frau es Königs ist, gehört zur Spitze des britischen Establishments. Sie hat einen Buchklub namens The Duchess‘s Reading Group – den Namen wird sie jetzt ändern müssen – und sie hat mein Buch dafür ausgewählt. Ich wurde dann interviewt. Ich kenne sie, ich bin ihr begegnet und das hätte ich vor 20 oder 30 Jahren nie gemacht. Heute ist mir klar, dass ich eine Beziehung mit den Leuten, die ganz oben sind, haben muss, wenn ich voll dabei sein will, wenn ich will, dass wir – People of Colour – Teil der britischen Gesellschaft sind. Ich habe mittlerweile bestimmte Zugänge, die viele andere Menschen nicht haben, und kann auf dieser Ebene repräsentieren.

Gestern bei deiner Lesung beim ilb hast du gesagt, dass aktuell die beste Zeit für Menschen of Colour – insbesondere für Frauen – ist, Bücher zu veröffentlichen. Idealerweise ist das mehr als ein Trend…

Es gab noch nie so viele Autor*innen wie jetzt, die in allen Genres ihre Werke veröffentlichen. Wir können also von einem Durchbruch sprechen. In der Vergangenheit gab es zwar Trends, aber nur in einem kleinen Maßstab. Die 20 Schwarzen Autor*innen, die in den 1990er auftauchten, verschwanden relativ schnell wieder.

Weil sie so schnell wieder verschwanden, wurde damals von einem Trend gesprochen. Aber mittlerweile werden die Bücher von hunderten Autor*innen of Colour veröffentlicht. Einige von ihnen sind sehr erfolgreich bei Kritiker*innen und ihre Bücher verkaufen sich gut. Manche sind ziemlich experimentell. Es ist fast unmöglich, dass diese Autor*innen jetzt wieder verschwinden. Ich hoffe jedenfalls, dass einige von ihnen eine lebenslange Karriere haben werden. Das ist es, was mich interessiert: Ich interessiere mich für Schriftsteller*innen wie mich, die ein Leben lang Karriere machen, denn das ist es, was wir bisher nicht hatten.

Du hast anderswo schon mal gesagt, dass nicht nur die Bücher von diverseren Autor*innen veröffentlicht werden müssen, sondern auch die „Gatekeeper“ vielfältiger werden sollten. Beim African Book Festival Ende August wurde bei einer Podiumsdiskussion über afrikanische Schriftsteller*innen und den Buchmarkt u.a. das Problem angesprochen, dass britische und US-amerikanische Verlage zu viel Macht haben und die Trends bestimmen. Was hältst du davon?

Das ist interessant. Ich habe noch nie gehört, dass Leute sich darüber beschweren. Wir leben im Zeitalter der multinationalen Konzerne, die immer mächtiger werden, die Macht in der Verlagswelt ausüben und jetzt eine viel breitere Palette von Autor*innen verlegen – also sehe ich das irgendwie als eine Kraft des Guten. Monopole sind auf keinen Fall wünschenswert und unabhängige Verlage müssen gefördert werden. Es gibt sie, aber ich glaube, sie haben es schwer. In einem gesunden Verlagssystem müssen alle Arten von Verlagen florieren. Natürlich ist es so, dass die großen Verlagshäuser dominieren. Sie ziehen neue Talente an und haben auch das Geld, um sie zu bezahlen, während es für die kleineren Unternehmen viel schwieriger ist, zu überleben. Das ganze Ökosystem des Verlagswesens erfordert viel Personal und gute Beziehungen zu den Medien. Bücher werden nur dann in den Medien rezensiert, wenn die Verlage gute Beziehungen zu den Literaturreaktionen haben, und Rezensionen sind ein wichtiger Weg, um Zugang zu Leser*innen zu bekommen. Für kleine, unabhängige Verlage ist es schwer, das zu organisieren und diese Beziehungen aufzubauen, während die großen Verlagshäuser eine ganze Abteilung haben, die sich nur damit beschäftigt.

Black Britain: Writing Back – Bücher, die den Test der Zeit bestehen

Könntest du mir ein paar Einblicke in die Reihe „Black Britain: Writing Back“ geben? Wie hast du die Schritsteller*innen ausgewählt, welche politischen Intentionen verfolgt das Projekt?

Dieses Projekt liegt mir sehr am Herzen! Als ich den Booker Preis gewann, sagte mein Verleger zu mir: Warum stellst du nicht eine Liste von Büchern zusammen und wir bringen sie wieder in den Druck? Für mich war das ein Geschenk des Himmels. Ich hatte so viele Jahre über eine ganze Reihe von wirklich hervorragenden Büchern von Schwarzen britischen Autor*innen gesprochen, die viel zu frühzeitig wieder von der Bildfläche verschwunden sind, zu einer Zeit, als niemand daran interessiert war, sie zu rezensieren, und die Medien kein Interesse daran hatten, sie bekannt zu machen. Ich glaube, es ist sehr schwer für Leute, die heute aufwachsen, zu erkennen, wie sehr wir ignoriert wurden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hat sich niemand für uns interessiert.

Als diese Idee aufkam, war ich sofort bereit, loszulegen. Ich wählte die ersten sechs Bücher, alles Romane, für die Wiederveröffentlichung aus. Das älteste Buch ist Minty Alley von C.L.R. James, das zuerst 1936 erschien. Ich habe mit meinem Verleger und seiner damaligen Assistentin, Hannah Chuckwu, zusammengearbeitet. Wir waren zu dritt. Ich wählte die Bücher aus, wir lasen sie alle und dann einigten wir uns, welche tatsächlich veröffentlicht würden. Ich sah mir zunächst meine Bücherregale an: Bücher, die ich im Laufe der Jahre gelesen hatte, Schriftsteller*innen, die ich kannte, Leute, die in den 1990er Jahren groß wurden, die mal ein Buch veröffentlicht hatten und dann verschwanden.  Ich war auf der Suche nach Büchern, die den Test der Zeit bestehen konnten. Es musste sich um qualitativ hochwertige Texte handeln, um originelle Stimmen, die sich für Leser*innen von heute immer noch relevant anfühlten. Ich denke, dass großartiges Schreiben das ohnehin macht, wie auch immer man es definiert: Schreiben, das seiner Zeit entspricht und diese Zeit überdauert.

Wir haben vorletzten Februar begonnen und das Interesse war ziemlich groß. Einige der Autor*innen arbeiten jetzt an neuem Material. Eine von ihnen hat zwei weitere Bücher herausgebracht, die an das erste, 1997 veröffentlichte Buch anknüpfen – es wird eine Reihe. Etwa 25 Jahre nach der Veröffentlichung ihres ersten Romans schreibt sie die Geschichte weiter, was einfach unglaublich ist.

Das Projekt hat die Karrieren dieser Schriftsteller*innen wiederbelebt und das war mein Ziel. Damit die neue Generation von Schriftsteller*innen, die recht jung ist und denkt, sie wären die ersten, merkt, dass sie Teil eines Kontinuums ist, dass es eine literarische Geschichte und ein Erbe gibt und dass wir alle auf dem Werk unserer Vorfahren aufbauen. Das ist so wichtig, weil Schwarze Literatur in Großbritannien sonst verschwindet und die Bücher einfach kommen und gehen. Es gibt nur ein oder zwei Leute, deren Namen bekannt sind, die eine lange Karriere hatten, wie Zadie Smith oder Andrea Levy, bevor sie starb. Ich wollte, dass die Leute wissen, dass es noch andere gibt. Ihre Bücher werden mittlerweile auch an den Universitäten wieder gelehrt. Es war ein großartiges Projekt.

Im vergangenen Februar haben wir fünf Sachbücher veröffentlicht. Einige der Bücher haben sich wirklich gut verkauft. Eins davon, A Black Boy at Eton von Dillibe Onyeama, sind die Memoiren des ersten Schwarzen Jungen, der mit 21 Jahren seinen Abschluss am Eton College gemacht hat – er hatte eine schreckliche Zeit. Es wurde 1971 veröffentlicht, und der Direktor des Internats sagte tatsächlich zu ihm: „Du bist an dieser Schule nie wieder willkommen“. Jetzt gibt es das Buch wieder und es erreicht ein neues Publikum. Der Autor lebt noch, mittlerweile in Nigeria.

Wir haben außerdem Growing Out: Black Hair and Black Pride in the Swinging Sixties von Barbara Blake Hannah veröffentlicht, die ebenfalls noch am Leben ist. Onyeama und Blake Hannah sind beide 80 Jahre alt. Blake Hannah war die erste Schwarze Fernsehreporterin Großbritanniens und lebte zehn Jahre lang in London, wo sie ihre fantastischen Memoiren schrieb. Die Bücher haben viel Aufmerksamkeit erregt, auch weil die beiden immer noch über ihre Erfahrungen sprechen können. Ich bin sehr stolz auf die Reihe und im nächsten Jahr werden weitere Bücher erscheinen, aber darüber darf ich jetzt noch nichts sagen.

Mit Herzlichen Dank an Klett-Cotta.

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