(Post-)Kolonialismus und der botanische Garten in Potsdam
Botanische Gärten als koloniale Orte zu verstehen, scheint besonders schwer zu fallen: zu unschuldig, zu prächtig und zu lebendig präsentieren sich ihre pflanzlichen Bewohner*innen, um in Verbindung mit kolonialer Gewalt, weißer Aneignung und hegemonialen Wissenschaftssystemen gebracht zu werden. Sich vor Augen zu führen, aus welchen Ländern, die Pflanzen stammen, und zu welcher Zeit sie nach Europa gekommen sind, verrückt die Brille, die auch wir als leidenschaftliche Besucherinnen* dieser Einrichtungen tragen. Um damit zu beginnen, die verdeckten kolonialen Schichten nachzuzeichnen, haben wir den Kustos des Potsdamer botanischen Gartens, Dr. Michael Burkart getroffen. Er gab uns einen Einblick in seine bisher nicht verschriftlichte Geschichte mit seinen kolonialen Bezügen. Dieser Text geht von diesem Gespräch aus und fragt im Anschluss daran nach den Herkünften, Bewegungen und möglichen Rückgaben der Pflanzen. Wir wollen die aktuelle Debatte um die Restitution von afrikanischen Kulturgütern zum Anlass nehmen, die Fragen um das koloniale Erbe auch für botanische Gärten zu stellen.
Entstehungsgeschichte des Gartens
Der Potsdamer botanische Garten blickt zwar als Institution der Universität auf eine junge Geschichte zurück, ist aber durch seine geografische Lage im Schlosspark Sanssouci mit dessen Kolonialgeschichten verwoben. Entstanden ist er in den 1950er Jahren als Teil der Pädagogischen Hochschule Potsdams während der DDR. Sein Bestand, der heute 10.000 Arten umfasst, stammt aus dem gärtnerischen Bestand des Schlossparks aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Dieser Altbestand wurde nach 1950 durch weitere Pflanzen ergänzt, die aus den kolonialen Sammlungen anderer deutscher botanischer Gärten zusammengetragen wurden. Der informelle Austausch von Saatgut und Stecklingen unter den botanischen Einrichtungen Deutschlands ist bis heute gängige Praxis. Die Bromelien, Epiphyten, Orchideen, Kakteen und die Nutzpflanzen, Kaffee, Maniok und Yams, die heute den Hauptbestandteil der Pflanzen ausmachen, kommen aus tropischen Ländern des Globalen Südens. Mit der Gründung des Gartens in der DDR öffnete sich ein neues Kapitel der botanischen Migration: nicht nur wurden viele Pflanzen aus dem Potsdamer Altbestand nach Moskau transportiert, im Gegenzug wanderten auch Pflanzen aus sowjetischen Partnerländern wie Kuba nach Brandenburg. Über diese verschlungenen und irrwegigen Pfade der Pflanzen gibt es – soviel in Potsdam bekannt ist – kein Archiv, das über die Provenienzen (Herkünfte) Auskunft gibt. Eine Gartendatenbank gibt es erst seit ca. 20 Jahren – über die Zeit davor schweigt die Datenbank.
Aktuell gibt es einige Projekte im Bereich der Provenienzforschung, die durch genetische Studien herausfinden wollen, aus welchen Sammlungsbeständen einzelne Pflanzen stammen. Oftmals wurde bei der Erstbeschreibung nur ein Beleg in den Herbarien, den Sammlungen konservierter Pflanzen, aufbewahrt und unter der Bezeichnung „only known from the type“ registriert. Die genetische Provenienzforschung will zeigen, ob die Pflanzen z. B. der Potsdamer Einrichtung Abkömmlinge der einzigen Aufsammlung sind, um damit Aufschluss über die Migrationsbewegungen der Pflanze zu geben.
Koloniale Institution
Botanische Gärten können als organische Museen verstanden werden, deren Exponate genauso wie in ethnologischen Museen, seltene, manchmal einzigartige Artefakte aus anderen Ländern zeigen. Nur das sie im Falle des botanischen Gartens eher als Natur- denn als Kulturstätte markiert sind und unter anderem deshalb oft nicht als museale Institution verstanden werden oder sich selbst als solche verstehen. Ganz grundsätzlich sind botanische Gärten die institutionellen Erben wissenschaftlicher Fachrichtungen der Biologie und Botanik, die zur Zeit der Kolonisation entstanden sind. Entdecken, klassifizieren und verpflanzen lassen sich als Instrumente von Kolonisierungsprozessen verstehen. Nicht nur beherbergen botanische Gärten in Europa und Nordamerika tausendfach Arten aus den ehemaligen Kolonien, auch umgekehrt migrierten „verbesserte Versionen“ von Pflanzen, die durch Experimente in den botanischen Gärten entstanden sind, wieder in den Kolonien und bildeten dort oftmals den Beginn von Plantagenwirtschaft. Während durch die globale Ausbreitung des Plantagensystems der Großteil einheimischer Pflanzen ausgerottet wurde, wanderte der gesicherte Restbestand dieses botanischen Artenreichtums in die künstlichen Repräsentations- und Forschungseinrichtungen Europas, die bis heute noch als „reicher Schatz“ dieser Ausbeute verstanden werden.
Botanische Gärten dekolonisieren
Die Frage, die wir uns als Medien- und Kulturwissenschaftlerinnen* stellen, ist, inwiefern die koloniale Aufarbeitung des botanischen Gartens mit genetischer Aufschlüsselung und Rückgabe angemessen umgesetzt ist. Wird unter “kolonial” nicht nur die historische Epoche der deutschen Kolonialgeschichte in Afrika, China und im Pazifik von ca. 1880 bis 1919 verstanden, sondern ein koloniales Mindset von Ästhetiken, Architekturen und Wissenschaftsstilen, zeigt sich, dass ein Begriff von der Kolonialität dieser Orte in seiner Komplexität erst noch entwickelt werden muss. Das Wort “kolonial” leitet sich von dem lateinischen “colere” für “Land bebauen” ab und verweist damit bereits sprachlich auf die Vorstellung, dass angeblich kultur- und geschichtslose Gebiete und Menschen zivilisiert und kultiviert werden müssten.
Dass naturwissenschaftliche Orte Ausdruck dieses kolonialen Mindsets sind, zeigen besonders die botanische Gärten in den europäischen Metropolen, die mit dem Anspruch erbaut wurden, die ganze Welt unter einem Dach zu zeigen. So entspricht etwa die Architektur des Berliner botanischen Gartens mit seiner kontinentalen Einteilung, in der die Besucherin mit zwei Schritten von Südamerika nach Afrika wechseln kann, einem imperialen System, sich die ferne Welt in die Metropolen zu holen und dort mittels der botanischen Importe zu repräsentieren. Gerade nach dem “Verlust” der Kolonien durch den Versailler Vertrag lassen sich die botanischen Gärten in Deutschland als Ausdruck einer imperialen Aneignungsgeste verstehen. Dass die Kolonialgeschichte auf imaginativer Ebene fortgeführt wird, manifestiert sich auch architektonisch in den gläsernen Gewächshäusern, dessen Vorläufer die Bauten der Weltausstellungen sind.
Die aktuelle Debatte um Kulturgüter zeigt, dass Restitution einen ethischen Akt meint, neue kulturelle Beziehungen zu knüpfen. Dafür ist die Erarbeitung dessen, was das “koloniale” in den wissenschaftlichen Einrichtungen meint, genauso relevant wie die Erarbeitung einer neuen Sammlungs- und Ausstellungspolitik – etwas bei dem der botanische Garten in Potsdam noch am Anfang steht. Nach dem Gespräch mit Michael Burkart haben wir mehr Fragen als Antworten: Wie lassen sich im Anschluss daran die Kolonialgeschichten der Pflanzen und botanischer Wissenschaftseinrichtungen zeigen? Wie gehen wir mit den Leerstellen in den botanischen Archiven um? Wenn die post/koloniale Forschung andere Geschichten, Widerstandsgeschichten fordert, wie könnten diese für die Pflanzen und deren Migrationsbewegungen aussehen?
Die Geschichte der Pflanzen und wie sie erzählt werden
Über die Wege, Herkünfte oder manchmal auch den Seltenheitswert einzelner Pflanzen gibt es wenig bis gar kein öffentlich zugängliches Material – wenn es denn überhaupt welches gibt. Auch hier gilt es, sich geduckt durch das Dickicht institutioneller Verbindungen zu bewegen, um an Informationen zu kommen. Es gibt keine offiziellen Verzeichnisse, keine Zeugnisse der Ereignisse, die uns verraten könnten, wie diese großen Sammlungen nicht-endemischer (also nicht-einheimischer) Pflanzen hierhergekommen sind. Informelle Netzwerke zwischen den botanischen Gärten und den Personen, die für sie verantwortlich sind und wiederum deren Verbindungen in die Hochschulen bilden die Grundlage für das Wissen, das es braucht, um diese Geschichten zu rekonstruieren. Anders gesagt: Wie und ob uns diese Geschichten, die für viele andere Geschichten stehen, erzählt werden oder belegt werden können, ist eng verbunden mit dem Willen von Einzelpersonen, sie zu erzählen. Aber auch die Pflanzen selbst künden von ihrer Herkunft. So wie hier kultivierte Tropenpflanzen oft im europäischen Winter blühen und damit einen materiellen Verweis auf die Einbettung in ein anderes Ökosystem liefern, in dem ihre Blüte mit Sonneneinstrahlung und dem Auftauchen von Insekten oder Vögeln in der Sommerzeit verbunden ist. Tatsächlich spricht die Blütezeit der Pflanzen oft eine eindeutigere Sprache über ihre Herkunft als jedes Verzeichnis.
Die Welwitschia, die in Potsdam und vielen anderen botanischen Gärten Deutschlands zu finden ist und natürlicherweise ausschließlich in der Namibwüste Namibias und in Angola vorkommt, ist in vielerlei Hinsicht ein faszinierendes Beispiel für die (Kolonial-)Geschichten die von, über und mit Pflanzen erzählt werden können. Sie ist derart regionalspezifisch, dass sie sowohl auf dem Wappen Namibias wie auf dem der Region Kunene und anderen regionalen Emblemen abgebildet ist.
Die Welwitschia ist eine Wüstenpflanze mit nur zwei langen, am Ende stetig absterbenden und sich verzweigenden Blättern und tiefen Pfahlwurzeln, die in Angola und Namibia unter verschiedenen Namen bekannt ist (n’tumbo, ǃkharos, khurub nyanka oder onyanga). Sie kann bis zu 2000 Jahre alt werden. Sie ist biologisch benannt nach Friedrich Welwitsch, der die Pflanze 1859 in Angola vorfand und sie zur Klassifizierung nach Kew (England) sandte. Welwitsch selbst schlug vor, die Pflanze für die Klassifizierung Tumboa, nach ihrer einheimischen Bezeichnung n’tumbo, zu nennen. Joseph Dalton Hooker allerdings, Direktor des Royal Botanical Gardens in Kew – bis heute einer der artenreichsten der Welt –, der die Pflanze beschrieb und klassifizierte, entschied sich dagegen und benannte sie nach Welwitsch. In der ersten europäischen Beschreibung (1863) der Pflanze kommentiert Hooker das für die europäischen Botaniker*innen außerordentlich ungewöhnliche Aussehen der Pflanze : ”It is out of the question the most wonderful plant ever brought to this country, and one of the ugliest”. Die Pflanze wird bis heute in vielen botanischen Gärten Deutschlands auf Informationstafeln als “hässlichste” oder “merkwürdigste” Pflanze der Welt oder “monströs” bezeichnet. Diese Ausstellungspraxis, die die Welwitschia zu gleichen Teilen mit Faszination, Ekel, Exotismus und Objektifizierung in Verbindung bringt, ist ein sprechendes Beispiel für koloniale Perspektiven, die sich in der Gegenwart fortschreiben. Die Geschichten, die auf diese Weise über die Pflanzen in botanischen Gärten erzählt werden, fremdeln mit den Pflanzen selbst – sie sind oftmals ein Spiegel der Mechanismen anderer Kolonialgeschichten, in denen Entwurzelung und Umbenennung ebenso eine Rolle spielen wie Objektifizierung und Anpassung.
Biodiversität, Restitution und Entwicklungshilfe: der botanische Garten in Sansibar
Wie gegenwärtig Kolonialgeschichten sind, zeigt sich im Gespräch mit dem Kustos des Potsdamer botanischen Gartens, Michael Burkart, als dieser von der Kooperation mit dem botanischen Garten in Sansibar berichtet. Bereits 1870 wurde in der Hauptstadt der Tansanischen Insel Unguja von einem britischen Botaniker ein Garten angelegt. (Tansania (ohne Sansibar), Burundi und Ruanda waren von 1885 bis 1918 die deutsche Kolonie „Deutsch-Ostafrika“.) Heute existiert dieser als städtische Grünfläche, nicht aber als Forschung- und Bildungseinrichtung. Im Zuge der vor zwei Jahren gestarteten Klimapartnerschaft Sansibars mit Potsdam wird gegenwärtig die Wiederherstellung des botanischen Gartens vom Deutschen Ministerium für Entwicklungshilfe finanziert. Der Botaniker John Otieno Ndege will im Rahmen dieses Projekt den botanischen Garten Sansibars für lokalen Bedingungen entwickeln. Hierfür sammelt Ndege, so erzählt uns Burkart, die Samen und Ableger der extrem seltenen Arten in den restlichen Wäldern der ostafrikanischen Küstengebieten, in denen nur noch 5 Prozent der einheimischen Bestände wachsen.
Eine der zentralen Aufgaben botanischer Gärten ist der Schutz lokaler Pflanzen und der Erhalt von Biodiversität. Sterben an Folgen von Agrarindustrie und Klimawandel die Pflanzen aus, beherbergen und vermehren die Gärten „pflanzliche Reserven” für deren erneute Aussiedlungen. Aus Sicht der Botaniker*innen, wie Ndege und Burkart, ist es zentral, funktionierte botanische Einrichtungen besonders in Ländern des Globalen Südens zu etablieren. Wobei neben Fläche und Pflanzen, auch das Angebot eines öffentlichen Programms für Besucher*innen das Funktionieren der Einrichtungen kennzeichnet. Gibt es z.B. in Viña del Mar oder Santiago de Chile namenhafte Einrichtungen, zeigt die Weltkarte der botanischen Gärten, dass 3/4 der Einrichtungen in den USA und Europa sind, nicht aber dort, wo die tropischen Pflanzen leben und herkommen. Auch aus diesem Grund, also neue botanische Einrichtungen zu etablieren, stellt sich die Frage, ob Ableger und Samen der im kolonialen Kontext migrierten Pflanzen zurückzugeben werden sollen.
Auf unsere Frage, was die Restitutionsdebatte für die botanischen Gärten heißt, antwortet Burkart: „Ja, die Pflanzen sollten sofort zurückgeben werden! Und zwar mit einem riesigen öffentlichen Brimborium. Wir sollten sagen: Guckt mal was wir gemacht haben! Jetzt geben wir den Leuten ihre ausgestorbenen Pflanzen zurück: Bromelien, einmal aufgesammelt in Brasilien, am Mata Atlântica, eine der biodiversitätsreichsten Regionen der Welt mit der größten Zerstörung. 5 -10 Prozent sind davon noch übrig, und dass durch die kolonialen Bestrebungen wie Kakao- und Zuckerrohrplantagen bereits seit über 100 Jahren. […] Das einzige was es noch gibt, ist ein einziger Klon, der sich über 5 oder 50 botanische Gärten in Europa und Nordamerika verbreitet hat.“
Koloniale Bestrebungen, wie Monokultur und Botanik in ihrer transatlantischen Wechselwirkung zusammen zu denken, ist komplex. Was das für aktuelle dekoloniale Handlungsweise bedeuten kann, ist wenig eindeutig: Sind Pflanzen zwar durch Samen und Stecklinge prinzipiell vermehrbar, leben die „Originale” und deren direkte Nachfahr*innen in Europäischen Gärten und stabilisieren neokoloniale Herrschaftsgefälle, z.B. in Form der Weitergabe des Wissens um Pflanzen. Der botanische Garten Sansibars steht als ein Projekt, das durch Entwicklungshilfe finanziert ist, im Gegensatz zu z. B. Reparationszahlungen indifferent gegenüber der moralischen und rechtlichen Anerkennung der kolonialen Gewaltherrschaft da – und dennoch ist es ein wichtiges Projekt. (Tansania hat auf Reparationszahlungen von der deutscher Regierung verzichtet.) Das post/koloniale Erbe ist ein kompliziertes: Wie der Soziologe Stuart Hall schreibt, führt die europäische Kolonisierung, die 80 Prozent des Globus umfasste, zu einer grundlegenden Veränderung der Welt, in dessen Folge es keine isolierte und autarke Alternative zur globalen Moderne und seinen Institutionen geben kann. In seiner Funktion als Bildungseinrichtung – das ist dem Kustos in Sansibar wichtig – soll der botanische Garten den Tansianer*innen, lokal wachsende Pflanzen wieder näher bringen. So lässt sich beispielsweise aus der Schlingpflanze Bungo ein schmackhafter Saft gewinnen. Ndege sagt: „Die Einheimischen kennen die lokalen essbaren Pflanzen häufig nicht und geben viel Geld auf Märkten für eingeführtes Obst und Gemüse aus. Ich möchte, dass sie essen und schätzen, was in ihrer Umgebung wächst.“ Vor diesem Hintergrund erscheint der Garten in Sansibar, in seiner für lokale Bedürfnisse angepassten Art, nicht nur als Ort des Schutzes heimischer Pflanzen, sondern auch als Möglichkeit einer Unabhängigkeit von westlichen Märkten.
Dieser Text wurde zuerst in zwei Teilen auf postcolonialpotsdam.org veröffentlicht.