Identitti
Mithu Sanyal kennen die meisten wohl dank ihrer exzellenten Sachbücher Vulva: Das unsichtbare Geschlecht (2009) und Vergewaltigung: Aspekte eines Verbrechens (2016). Identitti ist ihr erster Roman. Ich habe mich schon vorab sehr auf Identitti gefreut und wurde keineswegs enttäuscht: Ein Identitätsskandal wird nuanciert und – trotz aller Ernsthaftigkeit – humorvoll von allen Seiten beleuchtet.
Nivedita aus Essen wurde in ihrer Kindheit von anderen Kindern der indischen Diaspora Kokusnuss genannt – von außen braun, von innen weiß – und dabei quält sie sich sowieso schon mit den Fragen, wer sie ist und wo sie dazugehört. Erst als sie an der Uni Düsseldorf bei der legendären Saraswati Intercultural Studies/Postkoloniale Theorie studiert, findet Nivedita einen selbstbewussten Umgang mit ihrer Identität und artikuliert ihre Gedanken auf ihrem Blog, der Identitti heißt. In ihrem Blog geht es um Sex, Gender, Race und die Göttin Kali, mit der Nivedita regelmäßig imaginäre Gespräche führt. Ihre Beiträge finden derartigen Anklang, dass sie ein Radiointerview geben darf, bei dem sie glühenden Lobes über ihre Professorin spricht. Doch genau in diesem Moment kommt raus, dass Saraswati, die sich als indisch und als Person of Color ausgibt, eigentlich Sarah Vera heißt und weiß ist. Sofort bricht ein Shitstorm in den sozialen Medien aus. Die Fronten verhärten sich. Nivedita wird unterstellt, weiterhin zu Saraswati zu stehen, und bekommt folglich auch Wut und Kritik zu spüren. Tatsächlich will sie Saraswatis Geschichte des umgekehrten Passings auf den Grund gehen.
Natürlich musste ich bei dem Buch sofort an die US-amerikanische Rachel Dolezal denken. Um Dolezal rankte sich vor einigen Jahren eine ähnliche Kontroverse: Als weiße Person gab sie sich als Schwarz aus und sie war Präsidentin der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP). Ihr Verhalten wurde u.a. als Gipfel des Blackfacings bezeichnet.
In Sanyals vielschichtigem Buch bieten nicht nur die verschiedenen Charaktere ganz unterschiedliche Perspektiven auf die relevanten Themen in solch einem Fall an. Race, die (Un-)Möglichkeit von transracial Identitäten, weißsein, die Beweisbarkeit von Identität, interracial Beziehungen, Adoption usw. werden heftig diskutiert. Diese emotional aufgeladenen Debatten, die Freund*innenschaften belasten, werden mit Niveditas Blogposts bereichert. Weitere Perspektiven tauchen in Form von zahlreichen Zeitungsartikeln und Tweets auf. Tatsächlich finden sich in dem Roman Tweets von realen Persönlichkeiten, die sich gerne öffentlich zu identitätspolitischen Themen in Deutschland äußern – Sanyal, so steht es im Nachwort, hat sie für diesen Zweck um Kurzbeiträge gebeten. Mit dabei sind etwa Simone Dede Ayivi, Kübra Gümüsay und Felicia Ewert, um nur einige zu nennen.
Ich würde sagen, dass dieses Buch ziemlich einzigartig für den deutschen Kontext ist. Diskussionen über Identität führen die miteinbezogenen Stimmen schon lange auf Twitter und die Zahl der entsprechenden Sachbücher ist in den letzten Jahren in Deutschland deutlich gewachsen. Aber nun hat Sanyal eine fiktive Geschichte geschaffen, die sich vielstimmig, schlau und kritisch an ein hochkomplexes Thema heranwagt. Sanyal sagt im Nachwort selbst, „Identitätskämpfe sind Kämpfe um Fiktionen in der Wirklichkeit“ und so webt sie in ihrem Buch beides zusammen. Für mich war es eine besondere Freude, dass das Buch in der Metropolregion Rhein-Ruhr spielt – nicht nur, weil ich dorthin familiäre Verbindungen habe, sondern auch, weil in Deutschland sonst viele aktuelle Debatten (auch in der Fiktion) einen starken Berlin Fokus haben.
Identitti mag manchmal fast absurd oder abgehoben wirken – schon allein wegen des ganzen postkolonialen Jargons – aber als Person, die selbst Postcolonial Studies auf Englisch studiert hat und in Deutschland lebt, war es erfrischend dieses Buch mit dem Bezug auf den eigenen Kontext zu lesen. Das Buch vermittelt zudem durchaus ein Bewusstsein für das elitäre Element von Fachdiskursen:
„Im Kreis der von Saraswati ausgewählten Studierenden kommunizierten sie in einem fantastischen akademischen Abkürzungscode miteinander, in dem ein Wort ganze gewaltige Gedankenkonzepte ersetzen konnte: desi, happa, subaltern. Imagined communities, critical race theory, Intersektionalität. … [so] entstand ein ungeheuerliches, nie gekanntes Gefühl von Gemeinsamkeit, auch wenn die meisten nur vage Vorstellungen davon hatten, was eine imagined community sein sollte und Subalterne nicht einmal erkannt hätte, wenn sie ihnen mit Petersielie garniert auf einem Tablett serviert worden wären.“
Identitti, S. 101
In Identitti ist keine*r der Charaktere fehlerfrei. Es wird gestritten und manchmal auch vergeben. Die Debatte zu führen ist oft schmerzhaft, doch sie bringt alle Beteiligten weiter. So ist der Roman ein Plädoyer dafür, schwierige Gespräche zu führen, nicht vorschnell zu urteilen und die unsagbare Unordentlichkeit von Identitäten ein bisschen mehr anzunehmen. Ich weiß jetzt schon, dass ich dieses Buch in den nächsten Monaten sehr häufig verschenken werde.
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