Unterstütze poco.lit. über Steady.

„Es gibt viel mehr Insekten als in Madrid“: Ein Interview mit Inger-Maria Mahlke

„Es gibt viel mehr Insekten als in Madrid“: Ein Interview mit Inger-Maria Mahlke

Im Rahmen unserer Green Library Reihe sprachen wir mit Inger-Maria Mahlke über ihren Roman Archipel, der 2018 bei Rowohlt erschien und mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Mahlke wuchs in Lübeck und auf Teneriffa auf, studierte Rechtswissenschaften an der FU Berlin und widmete sich dann der Schriftstellerei. In unserem Gespräch ging es um Natur, soziale Klassenzugehörigkeit und Kolonialismus. Dieses Interview könnt ihr euch in etwas längerer Form als Podcast-Lesung hier anhören.

Warum hast du dich entschieden, Archipel auf Teneriffa spielen zu lassen? Was ermöglicht dir dieser Ort in der schöpferischen Gestaltung deiner Geschichte?

Erst mal habe ich natürlich einen biographischen Bezug zu Teneriffa. Ich habe dort Familie und habe Teile meiner Kindheit dort verbracht. Und dann ist Teneriffa als Ort auch ein sehr markanter Punkt europäischer Geschichte, weil es an der Peripherie liegt und weil eine Insel immer ein begrenzter Raum ist, wird europäische Geschichte – oder auch Weltgeschichte – dort sehr spürbar. Darum ist es interessant darüber zu schreiben. Man kann es wie ein Brennglas für andere Sachen benutzen.

In Archipel fallen die Beschreibungen der Natur als besonders prägnant auf. Du schreibst z.B., dass auf Teneriffa alles der Natur abgetrotzt ist, es gibt viel mehr Insekten als in Madrid und diese raue Umgebung der Insel scheint generell im starken Kontrast zu Spaniens Hauptstadt zu stehen. Welche Rolle spielen diese Eigenschaften der Insel für deinen Roman?

Ich glaube es geht weniger um den Kontrast zwischen der Insel und Madrid, sondern eher um den Kontrast zwischen der Insel und Festlandeuropa. Die Kanaren – oder auch die Insel in dem Buch – sind einfach ein sehr extremer Ort, an dem sämtliche Vegetationszonen vorkommen, was natürliche Abläufe viel extremer macht.

Trotzdem entspringt die Konstruktion, diese Inseln seien etwas Ursprüngliches oder Originäres im Gegensatz zum Festlandeuropa einer Festlandeuropäischen Perspektive. Die Inseln sind tatsächlich in ihrer Natur sehr durch den Menschen gestaltet. Die erste Naturkatastrophe der Insel, die bis heute nachwirkt, ist die Entwaldung. Die Konquistadoren haben im 15. Jh. angefangen die Wälder abzuholzen, ohne dass jemals wieder eine Aufforstung stattgefunden hätte. Es gibt nur noch ganz kleine Flecken von Restwäldern.

Die Vorstellung, dass die Natur der Insel ursprünglich ist, ist falsch. Aber die Lumen Zahl auf Teneriffa ist perfekt. Alles fängt dort erst einmal an zu leben. Jede Pflanze und jeder Samen fängt erst mal an zu wachsen.

Alles, was man an Pflanzen auf Teneriffa wahrnimmt, ist aber größtenteils überhaupt nicht endemisch. Bei den meisten Pflanzen handelt es sich um gescheiterte Wirtschaftsprojekte der vorherigen Jahrhunderte. Es fängt an mit dem Zuckerrohr, dann kamen die chumberas, usw.

Und weil Teneriffa so fruchtbar ist, ist es attraktiv für die Landwirtschaft und den Handel?

Jein. Ein anderes Problem bei Teneriffa ist, dass es eigentlich nur Hochgebirge ist mit einer Strandzone unten. D.h. die Insel ist sehr fruchtbar wegen des Vulkangesteins, doch es gibt kein Grundwasser, aber dafür starke Erosion. Es kann nur in Terrassen angebaut werden und gerade im 19. Jh. und Anfang des 20. Jh. musste stark gedüngt werden. Es wächst also nichts von alleine. Immer müssen künstliche Elemente reingegeben werden, um diesen seltsamen, üppig wachsenden Naturzustand zu schaffen.

An einer Stelle in deinem Buch kündigt der Unidozent Felipe Bernadotte seinen Job und fängt an, in seinem Garten Gemüse anzubauen. Vielleicht liegt es an seinen Fähigkeiten oder aber an den Bodenbeschaffenheiten, dass das Gemüse seltsam schmeckt oder aussieht. Aber abgesehen davon wirkt es wie ein kompensatorisches Verhalten dieses Charakters: An der Uni gescheitert, dann zurück zur Natur.

Ja, aber es ist auch ein politisches sich abarbeiten. Felipe Bernadotte stammt aus einer Familie von Konquistadoren, also der Oberschicht, die die Insel kontrolliert. Felipe identifiziert seinen Vater nicht zu Unrecht sehr stark mit dem faschistischen Staat und versucht nun in die Rolle zu kommen, die seiner Meinung nach die Opferrolle in diesen ganzen politischen Strukturen ist.

Er gärtnert aber nur eine Zeit lang und seine Frau Ana ist froh, als er aufhört „ein einfacher Bauer zu sein“ und anfängt nachmittags in den Club zu gehen. In Bezug auf diesen Club habe ich mich gefragt, welche Rolle das Klassenbewusstsein in deinem Roman spielt, aber auch für die spanische Gesellschaft. In der Hinsicht ist der Unterschied zwischen der Familie Bernadotte und der Familie Morales spannend. In Archipel putzen die Morales Frauen schon seit Generationen bei den Bernadottes.

Genau. Die spanische Gesellschaft ist eine Klassengesellschaft. Das gilt für die festlandspanische Gesellschaft und auf den Kanaren ist das Ganze noch viel zementierter durch den Einfluss der Briten. Das, plus die koloniale Struktur, die da immer noch mit drinhängt. Die Klassen sind sehr klar getrennt und das merkt man bis heute.

Mein ganzes Buch ist mehr oder weniger nach diesem Prinzip gestaltet und die Figuren sind nach diesem Prinzip gestaltet. Man hat die Oberschicht, die Bernadottes, dann die Mittelschicht, die auf Grund ihrer Bildung zu einem gewissen Standing kommt, das sind die Bautes, und dann hast du die 99% auf den Inseln, die die Unterschicht bilden und für die das auch tatsächlich ein hermetischer Zustand ist.

Kannst du noch kurz erklären, was dieser Club, in den Felipe geht, für ein Ort ist? Dafür fällt mir nämlich nicht direkt ein Vergleich in Deutschland ein.

Das kann man eigentlich nur mit der englischen Clubkultur vergleichen. Man muss Mitglied werden, indem zwei Mitglieder einen vorschlagen. Es gibt auf den Kanaren unglaublich viele Clubs. In Festlandspanien entstand die Clubkultur gegen Ende des 19. Jahrhunderts – z.B. kommt in Archipel einmal der Club Amistad doce de enero vor. Der Club, in den Felipe geht, orientiert sich mehr an den Englischen Clubs. Da gibt es einen öffentlichen Teil, ein Restaurant, und dann gibt es einen abgeschlossenen Teil für Sport und so. Meistens gibt es ein Musikzimmer und ein Lesezimmer,…

Neben diesen Clubs schreibst du in Archipel über Cafés als Männer Treffpunkte, z.B. das Café Atlanticó. Die Männer wollten in der Regel das politische Geschehen beeinflussen und sich in Entscheidungen für Spanien einbringen, die oft globale Auswirkungen hatten. Du hast auch schon den Kolonialismus und Faschismus erwähnt. Die Clubs und Cafés scheinen in den Machtspielen eine zentrale Rolle zu spielen.

Ja, es gab mehrere solcher Bars oder Cafés auf Teneriffa. Eine davon war die Bar Cuatro Naciónes unten am Hafen, die tatsächlich ein faschistischer Treffpunkt war. Da trafen sich die Reste des Empires, die immer noch auf der Insel rumlungerten, die Deutschen, die neu auf die Insel gekommen waren, und die kanarische Oberschicht. Politik fand auf den Kanaren unglaublich inoffiziell statt und das ist die Bedeutung dieser Clubs und dieser Bars. Das hängt natürlich damit zusammen, dass die politischen Strukturen auf persönlichen Beziehungen beruhen, was zutiefst anti-demokratisch ist. Das scheint typisch für stark hierarchische Systeme. Ich glaube, dass ist auch der Punkt, in dem sich Kolonialismus und Faschismus überschneiden, obwohl sie eigentlich komplett unterschiedlich sind. Beiden ist gemein, dass alles, was nicht man selber ist, abgewertet wird. Wer nicht Kolonisator ist, wer nicht faschistische Mehrheit ist, wird abgewertet und daraus entstehen so willkürliche Strukturen, die sehr empfänglich für dieses Informelle sind.

Auf den Kanaren kam noch folgende Situation hinzu, dass mit Einsetzten des Faschismus die Notwendigkeit entstand, die Kanaren wirklich spanisch zu machen. Es wurde wie früher in den Kolonien eine espanización durchgeführt – eine Spanisierung der Kanaren, also die Zwangskulturalisierung im Sinne der Festlandspanier. Dazu gehörte das Verbot von Spielen oder Riten der spanischen Urbevölkerung.

Es gibt also eine indigene Bevölkerung auf den Kanaren und es sind weder die Spanier noch die Briten. Über die schreibst du nicht in deinem Buch, aber kannst du mehr über sie erzählen?

Das sind die sogenannten Altkanarier oder Guanchen. Deren Ursprung ist nicht ganz klar. Neuste Ergebnisse besagen, dass sie phönizischer Herkunft sind. Bekannt ist, dass viele sprachliche, semantische und kulturelle Sachen berberische Bezüge haben. Aber wo sie herkommen ist schwer zu sagen.

Das Ende der Guanchen war die Eroberung durch die Spanier. Das passierte auf den Inseln recht unterschiedlich. Teneriffa war die Insel, die sich am heftigsten wehrte und es war ein fast 30-jähriger Prozess sie unter Kontrolle zu bringen. Das gelang den Spaniern nur mit Unterstützung von anderen Altkanariern von Gran Canaria, was den Hass dieser beiden Inseln aufeinander bis heute zur Folge hatte.

Die Spanier haben die Kanaren zuerst nur als Stützpunkt Kolonie begriffen. Der einzige ökonomische Nutzen war zunächst das Fangen von Guanchen und das Verkaufen von Guanchen als Sklaven.

Spannend. In deinem Buch schreibst du, dass der spanische König einmal gesagt haben soll, dass die Kanaren eine britische Kolonie ohne Flagge seien. Das heißt, das Vereinigte Königreich kommt auch noch in dieses komplexe Machtgefüge rein?

Genau, denn eigentlich waren die Kanaren den Spaniern ziemlich egal, weil die Spanier sehr viel schickere Kolonien in Lateinamerika hatten. Richtig spannend wurden die Kanaren erst 1898, als die Spanier im spanisch-amerikanischen Krieg ihre anderen Kolonien verloren und das Kolonialheer eine neue Beschäftigung brauchte.

Die Briten – die witziger Weise eigentlich irisch-stämmig waren – kamen auf die Kanaren nach der großen Hungersnot. Zuerst gingen sie in der Regel nach Madeira, wo es sehr viele britische Handelshäuser. Aber als dort die große Reblausplage passierte, zogen viele weiter nach Teneriffa, weil es ein komplett rechtsfreier Raum war.

Es ist wirklich beeindruckend, dass die Kanaren einerseits so fern vom Festland liegen und andererseits Dreh- und Angelpunkt für verschiedene festlandeuropäische Machtspiele und Handelsbeziehungen sind.

Ja genau, sie sind nämlich der letzte Haltepunkt vor einer Atlantiküberquerung. Da mussten alle im 19. und im frühen 20. Jh. vorbei, um den Weg über den Atlantik zu schaffen.

Die Green Library Reihe wird vom Berliner Senat gefördert.

Werde Steady-Mitglied von poco.lit.

So unterstützt du unsere Arbeit im Abo monatlich oder jährlich.