Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois
Honorée Fanonne Jeffers‘ erster Roman Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois (übersetzt von Maria Hummitzsch und Gesine Schröder) ist umfangreich und anspruchsvoll: Die Familiengeschichte der Afroamerikanerin Ailey Pearl Garfield wird über zahlreiche Generationen zurückverfolgt und zeigt komplizierte familiäre Verwicklungen, die eine Folge von Siedlungskolonialismus und Versklavung sind. Es ist lange her, dass ich eine Romanfigur so intensiv kennen gelernt habe wie Ailey. Die deutsche Übersetzung des Buches hat über 900 Seiten. Der Roman hätte an einigen Stellen schon früher ein Ende nehmen können, machte dann aber jedes Mal eine überraschende Wendung und wurde dabei nie langweilig.
Genau wie der Inhalt des Buches, ist auch die Komposition komplex. Die Kapitel werden von Zitaten von W.E.B. Du Bois gerahmt, dem berühmten afroamerikanischen Intellektuellen und ersten Schwarzen Harvard-Absolventen. Als Gründer der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) setzte sich Du Bois Anfang des 20. Jahrhunderts dafür ein, dass Schwarze Menschen in den USA ihren niederen sozialen Status hinter sich lassen könnten. Ihn interessierte zunächst besonders die Idee des „talented tenth“, einer kleinen Schwarzen Elite von 10%. Dass diese Haltung kritisch zu sehen und Du Bois dennoch eine unheimlich wichtige historische Figur ist, zeigen andauernde Diskussionen zwischen den Romanfiguren Ailey, ihrem Onkel Root und ihrem Freund David.
Ein Erzählstrang bietet detaillierte Einblicke in Aileys Leben von ihrer Kindheit bis in ihre frühen 30er. Ailey ist das jüngste von drei Kindern und wächst in „der Stadt“ im Norden der USA auf. Aber bis sie mit dem Studium beginnt, verbringt sie fast jeden Sommer in Chicasetta, dem fiktiven Geburtsort ihrer Mutter Belle in Georgia. Dort leben ihre Verwandten auf einer ehemaligen Baumwollplantage. Dieser Erzählstrang wird von Rückblicken in die Geschichte unterbrochen und folgt dann den Nachkommen der Creek Nila Wind sowie Aggie Pinchard, die aus Westafrika verschleppt und in den US-Südstaaten versklavt wurde, und Samuel Pinchard, Sohn eines weißen europäischen Siedlers auf der Suche nach Reichtum. Samuel Pinchard wird als überaus hübsch beschrieben, ist aber das Ebenbild des Bösen. Sein selbstsüchtiges, gewaltvolles Verhalten verbindet diese Familien. Ailey führt diese einzelnen Erzählstränge noch deutlicher zusammen, als sie mit ihrer Promotion in Geschichte beginnt und Archive nach Material über die Pinchard Plantage durchforstet.
Persönlich und herzzerreißend nimmt dieses Buch immer wieder neue Wendungen, thematisiert traumatische Erfahrungen und verschiedene Umgangsweisen mit ihnen. So zeigt die Familiengeschichte an sich, dass der Aufstieg des „talented tenth“ eine Illusion ist, die von historischen und familiären Traumata hervorgerufen und gleichzeitig unterbunden wird. Wem Heimkehren von Yaa Gyasi gefallen hat, kann ich Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois besonders empfehlen.
In der deutschen Übersetzung gefiel mir außerdem besonders das ausführliche Nachwort von Gesine Schröder und Maria Hummitzsch. Sie mussten schwierige Entscheidungen in Bezug auf die Übersetzung von African American Vernacular English und Begrifflichkeiten rund um Race und Colorism treffen. Die Überlegungen hinter den Entscheidungen transparent zu machen, scheint sich immer mehr zu etablieren. Diese Nachwörter oder Vorwörter leisten einen wichtigen Beitrag zur Debatte über politisch sensible Begriffe im deutschsprachigen Raum. (Siehe auch „Was steht im Vorwort? Über Anmerkungen zur Übersetzung“).
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