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„Die deutsche Übersetzung war besonders schwierig“: ein Interview mit Tara June Winch

book against background of flower bush

„Die deutsche Übersetzung war besonders schwierig“: ein Interview mit Tara June Winch

Am 18. Mai 2023 las Tara June Winch im Wolkensteinsaal in Konstanz aus ihrem Roman Wie rote Erde (übersetzt von Juliane Lochner). Am nächsten Tag hatten wir die einmalige Gelegenheit mit ihr über das Buch, das eine Art Wiradjuri Wörterbuch ist, zu sprechen.

Gestern Abend hast du aus Wie rote Erde vorgelesen und erzählt, warum du dieses Buch geschrieben hast: Es ist ein kulturelles Handbuch und ein Archiv. Es dient der Heilung. Es ist ein Liebesbrief. Es ist für dein Kind. Du wolltest vom Kolonialismus erzählen. Könntest du noch etwas mehr auf eine oder mehrere dieser Facetten eingehen?

Ja, das trifft alles zu. Mir war wichtig, über die Kolonialisierung Australiens zu schreiben und über die schrecklichen Folgen. Es ging mir darum, die Tiefe und die Macht von Sprache und Kultur zu zeigen und auf ihre enge Verbindung mit dem Wohlbefinden zu verweisen. Die Schwierigkeit bestand darin, in einem Roman die Bedeutung von Sprache zu thematisieren und Sprache gleichzeitig als erzählerisches Mittel einzusetzen. Sprache hat mich motiviert, das Buch zu schreiben, aber sie hat mich auch herausgefordert und zehn Jahre beschäftigt.

Die Vernichtung einer Muttersprache ist eine Form kolonialer Machtausübung

Sprache ist in Landschaften eingebettet. Ein Zitat von Ngugi wa Thiong’o fasst es perfekt zusammen: Kugeln dienten der physischen Unterwerfung und Sprache diente der geistigen Unterwerfung. Die Vernichtung einer Muttersprache ist eine Form kolonialer Machtausübung und eine Waffe. Ich wollte zeigen, dass die Kolonisierung an der West- und Ostküste Australiens die indigenen Kulturen wirklich zerstört hat.

Du hast gestern Abend erzählt, dass du im Ausland aufgewachsen bist und Wie rote Erde auch teilweise im Ausland geschrieben hast. Was bedeutet das für dich?

In den zehn Jahren, in denen ich an dem Buch geschrieben habe, bin ich vielleicht sechs Mal im Wakka-Wakka-Autor*innenhaus gewesen, das sich auf dem Land der Wiradjuris befindet. Sechs Mal habe ich also genau da geschrieben, wo die Geschichte spielt. Mein Vater lebt dort. Manchmal besuchte ich ihn und schrieb in seinem Haus. Ich schrieb überall.

Ich denke, es hat einen Vorteil, aus der Ferne, aus dem Ausland zu schreiben. Ich habe auch zeitweise mit Wole [Soyinka] in Nigeria an dem Buch gearbeitet. Starke Erinnerungen bleiben auch an weit entfernten Orten bestehen. Sie werden nicht durch das Alltägliche oder neue Gewohnheiten verwässert. Ich denke, dass es ein Vorteil sein kann, aus dem selbstgewählten Exil über das eigene Land zu schreiben. Erinnerung bleiben bestehen.

Aus dem Ausland zu schreiben, erschwerte mir aber manchmal die Recherche in Bezug auf die [Wiradjuri] Sprache. Allerdings ließ sich über die Art von Material und das, was das ganze Buch zusammenhält, aus der Ferne leichter schreiben.

Könnest du mir mehr über deine Recherchen erzählen?

Ich habe sehr viel recherchiert und versucht, es so aussehen zu lassen, als wäre das nicht nötig gewesen. Mit meinen Nachforschungen wollte ich u.a. herausfinden, ob die Geschichten meines Großvaters der Wahrheit entsprachen. Viel Forschung in Bezug auf die Sprache selbst wurde bereits von Dr. Uncle Stan Grant Senior und Dr. John Rudder und andere „language custodians“ – Menschen, die die Sprache hüten – durchgeführt. Es gibt eine Sprach-App, die in Condobolin entwickelt wurde, wo meine Großmutter lebte. Zu meinen Recherchen gehörten auch die Reisen nach Australien, um verschiedene Orte besser kennen zu lernen.

Ich fand die Briefe von Gribbles – die Briefe eines Missionars. Und ich habe mit Naomi Parry zusammengearbeitet. Sie ist Wissenschaftlerin und Expertin für die Kinderheime, die es früher insbesondere in New South Wales gab. Ich habe viel in Archiven geforscht und dann versucht, das Ganze so zu gestalten, dass es nicht zu akademisch wirkt.

Soll ich dir etwas Verrücktes verraten, das kurz nach der Veröffentlichung des Buches passiert ist? Mein Cousin Eric Winch arbeitet für eine Organisation namens Link-Up, die der Stolen Generation dabei hilft, Kontakt zu ihren Familienmitgliedern aufzunehmen. In seiner Arbeit beschäftigt er sich mit der Herkunft von Menschen und er hat auch unseren Stammbaum zusammengestellt. Wir sind Wiradjuri, Ngunnawal und Gandangara. Wenn man den Stammbaum der Gandangara zurückverfolgt, führt er zu King Billy von Appen, meinem Ururgroßvater. Er war der erste Aboriginal, der ein Wörterbuch für seine eigene Sprache veröffentlichte. Das habe herausgefunden, kurz nachdem ich Wie rote Erde veröffentlicht hatte, und dann tagelang geweint. Es ist unglaublich.

King Billy von Appens Wörterbuch ist eine Broschüre, die du dir im Internet anschauen kannst. Ich würde am liebsten in die Staatsbibliothek gehen und sie klauen (lacht). Sie heißt „Meine Erinnerungen“. Es gibt auch ein Bild von ihm und er sieht aus wie mein Vater. Er spricht über seine Mutter und die Rolle, die Kängurus in seinem Leben spielten, und über das Land und die verschiedenen Begriffe der First Peoples. Am Ende gibt es eine Liste von Wörtern – und sie sieht genauso aus, wie die am Ende meines Buches. Das habe ich etwa eine Woche nach dem Erscheinen von Wie rote Erde herausgefunden.

Mein Ururgroßvater war King Billy von Appen, der Autor dieses Wörterbuchs. In unserer Familie gibt es also zwei Leute, die so etwas gemacht haben.

Kannst du etwas mehr über deine Archivarbeit sprechen? Bruce Pascoe hat uns in einem Gespräch über Dark Emu erzählt, wie kompliziert es war, sich auf koloniale Archive beziehen zu müssen. Aber er dachte, es wären gerade diese Archive, die weiße Australier*innen relevant finden würden. Welche Erfahrungen hast du in deiner Archivarbeit gemacht?

Das Komische an der Revitalisierung von Sprachen in Australien ist, dass die Communitys oft auf Archive wie diese zurückgreifen müssen, auf Archive der Siedler*innen, auf Dokumente von örtlichen Polizeibeamten, von Missionaren – die zwar manchmal die Sprache verboten, sie aber gleichzeitig aufzeichneten – um ihre Sprache wiederzubeleben. Es ist kompliziert, eine Sprache wiederzubeleben und dafür die Ressourcen derjenigen nutzen zu müssen, die sie zerstört haben.

Wir müssen auf weiße Archive zurückgreifen

Deshalb gibt es in meinem Roman die Stimme des Missionars, Greenleaf, der eigentlich gute Absichten hat. Ich wollte nicht, dass er ein Schurke ist. Diese Archive, diese Missionarsbriefe, sind sehr wichtig. Es ist eine weiße Quelle.  Aber da die meisten meiner Leser*innen weiß sind, war mir klar, dass diese Perspektive wichtig ist. Und sie fasziniert mich! Diese Stimme in meinem Buch zu haben, ist kein Konflikt für mich.

Da wir gerade über Greenleaf sprechen: Hier im deutschen Kontext ist es sicherlich besonders interessant für Leser*innen, dass diese Figur deutsch ist. Wenn ich es richtig verstanden habe, war Revered Gribble, die historische Figur, auf deren Briefe du dich für diese Perspektive gestützt hast, ein Brite. War es eine bewusste Entscheidung, Greenleaf zu einem Deutschen zu machen?

Mir gefiel die Idee, weil es viele Aboriginal Communitys gibt, die immer noch zwischen dem Christentum und ihrer eigenen Spiritualität schwanken. Viele sind Lutheraner. Die Idee eines lutheranischen Missionars hat mir sehr gut gefallen. Für mich klang das einfach wunderschön und ich folgte dieser poetischen Neigung. Aber ich wollte, dass die Figur wegen ihrer eigenen Sprache und der Nebensächlichkeit des Geburtsortes verfolgt wird. Greenleaf sollte über seine Taten nachdenken können. Wenn er Brite gewesen wäre, wäre das nicht möglich gewesen. Er musste Deutscher sein und es musste in dieser Zeit [im frühen 20. Jahrhundert] spielen. Es gibt ein Buch mit Fotos von Deutschen, die während des Ersten Weltkriegs in Australien interniert wurden, und das war sehr hilfreich, um zu entscheiden, von wo aus Geenleaf seine Briefe schreiben würde.

Ich war an einer Figur interessiert, die eher eine Art Fußsoldat für Gott war und kein schrecklicher weißer Rassist. Nicht alle, die an der kolonialen Zerstörung von Kulturen beteiligt waren, hatten böse Absichten. Das ist eine künstlerische Entscheidung. Für mich als Autorin sind diese komplexen Charaktere interessanter. Und mir schien, dass die Entfernung vom britischen Kolonialismus diese Komplexität ermöglichte.

Lass uns noch einmal auf Uncle Stan Grant Senior und John Rudder zurückkommen. Du hast gestern erzählt, dass du über einen Sprachkurs mit Fokus auf das Land der Aboriginals gestolpert bist. Haben die beiden ihn geleitet?

Uncle Stan Grant Senior bot den Kurs an. Es war ein Sprachkurs in einem Community-Zentrum. Ich war auf der Suche nach Warrangesda. Ich wusste, dass es in diesem Community-Zentrum Sprachkurse gab. An dem Tag, an dem ich dorthin ging, fand zufällig gerade einer statt. Das war 2004/2005 und ich recherchierte noch gar nicht für Wie rote Erde. Die 15 Wörter, die ich damals lernte, flossen in meinen ersten Roman, Swallow the Air. Aber seit dem Zeitpunkt wusste ich, dass ich in irgendeiner Weise über Linguistik schreiben wollte. Ich suchte nach dem Ort, an dem meine Verwandten lebten. Die Warrangesda-Mission ist in dem Buch mehr oder weniger wohlhabend. Sie haben ein Wohnheim für Jungen und ein Wohnheim für Mädchen. Ein Teil des Gebäudes steht noch. Ich glaube, die Mission soll restauriert und geschützt werden, aber dort befinden sich auch unmarkierte Gräber. Es ist ein ziemlich dunkler Ort.

Der Sprachkurs war jedenfalls eine traumhafte Erfahrung. Ich habe die gelbe A4-Wörterbuch-Broschüre gekauft, die 2003 von dem Community-Zentrum herausgegeben wurde. Damals war es ein dünnes Büchlein, mittlerweile ist das Wörterbuch dank weiterer Forschung in Archiven und vielen Gesprächen mit Ältesten deutlich dicker geworden.

Zu dieser Zeit gab es kein wirkliches Interesse an den Sprachen der Aboriginals – aber das hat sich geändert, vor allem seit 2019, dem internationalen UNESCO-Jahr der indigenen Sprachen, das vor allem in Australien einen großen Anstoß dazu gab, die Sprachen der Aboriginals in Schulen zu unterrichten und wieder eigene Ortsnamen zu verwenden.

Kannst du etwas über die Übersetzung des Buchs erzählen? Warst du involviert in die Übersetzungen?

Ich war nicht unbedingt an allen Übersetzungen beteiligt. Aber die Übersetzung ins Deutsche war besonders schwierig und politisch aufgeladen. Einige Begriffe sind sehr sensibel. Die deutsche Sprache hat eine lange Geschichte und sie wurde von den Nazis als Waffe eingesetzt. Für die Übersetzerin, Juliane Lochner, war mein Buch wirklich harte Arbeit.

Einige Dinge haben sich nicht gut übertragen lassen. Das passiert in allen Sprachen, aber ich weiß, dass insbesondere das Wort „Native“ im Deutschen eigentlich nur eine beleidigende Entsprechung hat. Wir wollten bei der Übersetzung vorsichtig sein, weil die deutsche Sprache in der Vergangenheit als Waffe eingesetzt wurde.

Die Übersetzung ins Deutsche war besonders schwierig und politisch aufgeladen

Die Übersetzung war ein schwieriger und sehr langer Prozess. Ich habe mich mit meiner Übersetzerin unterhalten, obwohl ich diesbezüglich nicht besonders gut helfen konnte. Sie war überaus einfühlsam und hat großartige Arbeit geleistet. Ich vertraue ihrem Umgang mit ihrer Muttersprache.

Von anderen Übersetzungen des Buches habe ich kaum etwas mitbekommen. Aber es ist interessant, darüber nachzudenken, welche Sorgfalt die verschiedenen Verlage und die Übersetzer*innen dem Buch entgegenbringen.

Was hältst du von dem Begriff „Native“ im australischen Englisch?

Es ist ein Begriff, der seinen historischen Platz hat, ähnlich wie Aboriginal. Historisch betrachtet gehört Aborigine zur australischen Umgangssprache, aber heute wird dieser Begriff eigentlich nicht mehr verwendet. Dasselbe gilt für Indigenous. Diese Begriffe haben in Australien eine beleidigende Geschichte, weil Aboriginals als Flora und Fauna angesehen wurden, nicht in der Verfassung standen und erst in den 1960er-Jahren das Wahlrecht erhielten – also erst vor kurzem.

Kannst du uns ein bisschen über dein nächstes Buch erzählen?

Es handelt von einem Aboriginal Soldaten, der nach einem Artilleriebeschuss taub ist, dem Zweiten Weltkrieg entflieht und für den Rest seines Lebens mit seinem Hund in Europa bleibt. Es geht um die nonverbale Sprache zwischen Mensch und Tier, zwischen ihm und seinem Hund. Es geht um Gebärdensprache, die sowohl in Europa als auch in Aboriginal Australien eine interessante Geschichte hat.

In einem Museum in Lyon gibt es einen Bronzeabguss eines Aboriginal. Niemand weiß, wen dieser Bronzeabguss darstellt oder woher er kommt. Das war eine Art Inspiration für Timmy: Wer ist dieser Mann und warum ist er hier?

Es ist eine Geschichte über einen übergelaufenen Soldaten und seinen Hund. Mir gefällt die Idee, dass ein Soldat sich aus Liebe zu seinem streunenden Hund absetzt. Mein Großvater war im Zweiten Weltkrieg. Ich scheine mich durch meine Geschichte zu arbeiten. Ich möchte diese Person, diesen Vorfahren ehren. Ich spreche zuerst mit der Vergangenheit, bevor ich mit der Gegenwart sprechen kann.


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