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Die ambivalenten Stärken von spekulativer Fiktion

Die ambivalenten Stärken von spekulativer Fiktion

Kürzlich haben wir Artikel über Afrofuturismus und afrikanischen-Futurismus veröffentlicht. Beide können dem größeren Genre der spekulativen Fiktion zugerechnet werden. Aber was ist spekulative Fiktion? Oder – und das ist vielleicht noch wichtiger – was macht spekulative Fiktion möglich?

Spekulative Fiktion scheint gerade in letzter Zeit massiv an Popularität zu gewinnen, und das zu Recht, denn es ist ein Genre, das fantastische Werke hervorbringt. Ein Beispiel, das mir sofort in den Sinn kommt, ist Namwali Serpells hervorragender Roman The Old Drift, der 2019 veröffentlicht wurde. Serpells Roman stellt sich eine Gegenwart vor, in der digitale Chips, die Perlen genannt werden und sowohl den Zweck von Smartphones als auch von Ausweisdokumenten erfüllen, in die Finger von Menschen implantiert werden. Der Roman imaginiert eine halbdystopische und nicht allzu ferne Zukunft, in der Mikrodrohnen zur Überwachung und Unterdrückung eines politischen Aufstands eingesetzt werden und gleichzeitig als potenzielles Vehikel für eine emanzipatorische Revolution in Frage kommen. Das politische Potenzial dieser Art des Schreibens, in der über alternative Vergangenheiten, die Verrücktheit der Gegenwart und mögliche Zukünfte spekuliert wird, ist ambivalent. Einerseits bietet sie eine ausgesprochen befreiende Energie, andererseits reichen ihre Wurzeln womöglich in konservative Ecken der Geschichte.

Eine der wohl bekanntesten Autorinnen der spekulativen Fiktion ist Octavia Butler. Butlers verdientermaßen berühmter Roman Kindred – Verbunden (übersetzt von Mirjam Nünning) verwendet beispielsweise das Erzählmittel der Zeitreise, um intergenerationelles Trauma zu veranschaulichen: die Idee ist, eine Metapher wörtlich zu nehmen, um zu zeigen, wie die Vergangenheit in der Gegenwart weiterlebt. Butlers Schreibfeder macht die spekulative Fiktion eindeutig zu einem Mittel, um die schwierige Geschichte der Versklavung zu konfrontieren und umzuschreiben und – wichtiger noch – um Darstellungen zu widersprechen, die versuchen nahe zu legen, dass diese Geschichte nicht mehr relevant für heute lebende Afroamerikaner*innen sei.

Auf der anderen Seite der Medaille zählt Science-Fiction sicherlich zu den Vorläufern spekulativer Fiktion. Auch wenn spekulative Fiktion ein Ort der Auseinandersetzung mit etablierten Formen der Begegnung mit dem „Anderen“ sein kann, zum Beispiel in Form von Aliens oder Cyborgs, so sind weitere Diskurse und Motive, die die spekulative Fiktion von der Science-Fiction erbt, in den Imperialismus eingebettet. Die Entstehung der Science-Fiction ist tief verwurzelt im Expansionismus des 19. Jahrhunderts und bedient sich oft rassistischen Darstellungen über das Aufeinandertreffen von Europäer*innen mit außereuropäischen „Anderen“.  Die Herkunftsgeschichte der Science-Fiction beinhaltet darüber hinaus auch eine Verherrlichung der europäischen „wissenschaftlichen“ Wissenstradition, welche andere Epistemologien als Aberglaube ansah und wissenschaftlichen Rassismus produzierte.

Science-Fiction und spekulative Ficiton sind beide mit Vorstellungen von Zukunft verbunden und oft werden alternative Zukünfte imaginiert – was in der Hinsicht erwähnenswert ist, da es empowernde Züge hat und somit Änlichkeit mit den Ideen von Afrozukünften zeigt. Zuvor wurden postkoloniale Schriftsteller*innen häufig durch koloniale Narrative als ewig in der Vergangenheit festhängend dargestellt. Aber es waren auch Zukunftserzählungen, insbesondere in Verbindung mit einem bestimmten Verständnis von Fortschritt und Technologie, die im Namen der kolonialen zivilisatorischen Mission und in verschiedenen (hetero-)normativen Repräsentationsformen zur Folge hatten, dass einige Gruppen als Menschen „ohne Zukunft“ markiert wurden.

Durch Figuren wie Monster, Außerirdische und Cyborgs scheint die spekulative Fiktion oft Alternativen zu festen Identitätskategorien aufzuzeigen, die lange Zeit der strukturellen Ungleichheit gedient haben. Texte, die die Bedeutungen auf den Prüfstand stellen, die geschlechtsspezifischen oder rassifizierten Körpern zugeschrieben werden, wecken Hoffnung, dass die Art und Weise, wie Macht über solche Körper ausgeübt wird, überwunden werden kann. Technologien könnten diese Veränderung möglich machen. Letztlich neigt Technologie jedoch in den meisten Fällen eher dazu, bestehende Machtstrukturen aufrechtzuerhalten, und der vergeschlechtlichte und rassifizierte Körper lässt sich vielleicht nicht so leicht überwinden.

In verwandter Weise regt die spekulative Fiktion, die die Rassifizierung verschiedener Figuren inszeniert, die so zu „Anderen“ werden, zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser Praxis und ihrer Normalisierung an. Aber zumindest die Science-Fiction war historisch gesehen auch ein relativ weißes Genre und zwar im Hinblick auf die Überrepräsentation weißer Schriftsteller*innen, als auch weißer Erfahrungswelten.

Dennoch scheint ein wachsendes Interesse an diesem Genre – von Schriftsteller*innen und Leser*innen – darauf hinzudeuten, dass spekulative Fiktion diesen Fragen viel zu bieten hat. Das Schreiben in diesem Modus hat ein Gespür für kreatives Hinterfragen etablierter normativer Kategorien. Texte, die versuchen, darüber hinauszudenken, oder darauf hinarbeiten, präskriptive Binaritäten (z.B. von Geschlecht oder Sexualität) aufzulösen, sprechen politische Projekte an, die in den letzten Jahren stark an Sichtbarkeit gewonnen haben. Die Popularität des Genres bedeutet, dass es in der Lage ist, die Herausforderungen, denen es sich stellt, und das kritische Engagement, das es fördert, einem breiteren Mainstream-Publikum zu vermitteln. Wie ambivalent auch immer die Spekulative Fiktion sein mag, für viele Autor*innen und Leser*innen scheint dieses Genre ein wirksames Mittel zu sein, um bestehende strukturelle Ungleichheit zu ent-normalisieren; um warnende Geschichten zu erzählen, z.B. über den Klimawandel und die unkontrollierte Vorherrschaft von weißen Menschen; und um ein für marginalisierte Gruppen besonders akutes Bedürfnis zu befriedigen, andere Zukunftsvisionen vorstellbar zu machen. Ich jedenfalls bin sehr gespannt darauf, was dieses Genre noch zu bieten hat.

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