Der Nachtwächter
Schon lange hatte ich vor, endlich ein Buch von Louise Erdrich zu lesen, denn sie ist vielleicht die berühmteste Native American Schriftstellerin überhaupt. Ihr neustes Buch erschien 2020 und schon ein Jahr später in deutscher Übersetzung von Gesine Schröder. Die Geschichte, die sie in Der Nachtwächter erzählt, basiert auf der Lebensgeschichte ihres Großvaters. Ihre Fiktion nutzt tatsächliche Ereignisse der 1950er Jahre und macht so auf die prekäre Situation der Turtle Mountain Chippewa in einem Reservat in North Dakota aufmerksam. Bei sehr dicken Büchern – zu denen Der Nachtwächter mit fast 500 Seiten zählt – bin ich oft skeptisch, ob dieser Umfang wirklich nötig ist. Aber dieses Buch habe ich einfach in zwei Tagen verschlungen.
Es tauchen zahlreiche, sympathische Charaktere auf, die eine warme, sich unterstützende Gemeinschaft zeigen – auch wenn es alltägliche Konflikte gibt. Doch hauptsächlich dreht sich die Geschichte um Thomas Wazhashk und Patrice Paranteau, die Onkel und Nichte sind. Thomas arbeitet als Nachtwächter in einer Fabrik, ist aber außerdem Vorsitzender des Chippewa-Rats. Als er Wind von einer geplanten Gesetzesänderung bekommt, die zwar dem Wortlaut nach zur „Emanzipation“ der Chippewa beitragen soll, aber de facto die Zerstörung der Gemeinschaft und vermutlich den Ruin vieler jetzt schon verarmter Familien bedeuten würden, setzt er alles daran, die federführenden Politiker – allen voran ein rassistischer Mormone – umzustimmen. Patrice arbeitet ebenfalls in der Fabrik und bringt mit ihrem geringen Lohn die Familie durch. Neben den Geldsorgen quält die Familie, dass die älteste Tochter Vera spurlos verschwunden zu sein scheint. Mutig begibt sich Patrice auf die Suche und fährt dafür nach Minnesota, wo sie einiges erlebt, aber Vera nicht findet. In diesem zweiten Erzählstrang geht es besonders um die Rolle von indigenen Frauen, sexualisierte Gewalt und Fragen nach der Bedeutung von Liebe.
Viele Bücher, die in das Spektrum von postkolonialer Literatur fallen, erzählen von schrecklichen Lebenssituationen und Unterdrückung. Das trifft auf Der Nachtwächter auch teilweise zu. Aber es hat gut getan, dieses Buch zu lesen, das Stärke und Widerstandsgeist einer unterdrückten Gruppe zentriert und Hoffnung gibt. Die Protagonist*innen haben mich völlig für sich eingenommen und kleine Weisheiten luden ein, die Welt durch andere Augen zu betrachten. Z.B. kritisiert Patrices Mutter Zhaanat, dass Orte in den USA nicht mehr danach benannt werden, was dort passiert – wie Träumen, Essen, Begegnungen mit Tieren – sondern nach Menschen – Politikern, Priestern, Forschern (und zwar tatsächlich häufig männlichen). Der Roman steht für Respekt vor dem Land und allen Lebewesen und drückt eine Kritik an arroganter Aneignung aus.
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