Auf der Suche nach einem besseren Himmel: Ein Interview mit Jennifer Neal
Dies ist eine gekürzte Transkription unserer Green Library Veranstaltung „In Search of better Skies“ (etwa: „Auf der Suche nach einem besseren Himmel“) mit Jennifer Neal. Am 8. Juli 2020 gewährte uns Jennifer Neal bei einer online Veranstaltung Einblicke in ihre Arbeit. Sie ist eine australisch-amerikanische Schriftstellerin, Künstlerin und gelegentlich auch Stand-up-Comedian, die derzeit in Berlin lebt. Sie hat Kurzgeschichten und eine Vielzahl von journalistischen Beiträgen veröffentlicht und kürzlich ihren ersten Roman fertiggestellt. Jennifer hat mit uns über nature writing und spekulative Fiktion gesprochen.
Als ich deine Kurzgeschichte „In search of better skies“ las, war ich beeindruckt davon, wie sehr die Geschichte von Rassismus im Grund und Boden der Beschreibung von Woodland im US-Bundesstaat Georgia verwurzelt zu sein scheint; das Böse ist regelrecht in der Landschaft eingebettet. Könntest du uns erzählen, welche Rolle Natur und Umwelt für dich spielen, wenn du über die Geschichte von bestimmten Orten schreibst? Welche Beziehung hat die beschriebene Natur zu der Geschichte, die du erzählst?
Beim Schreiben verwende ich das Setting als primären Charakter, weil ich Menschen eigentlich als nebulöse, vergängliche Charaktere verstehe. Menschen migrieren, Grenzen verschieben sich ständig und Menschen sind im Grunde vollkommen unzuverlässig: Wir lügen, wir täuschen und wir haben mehr als einmal historische Ereignisse umgeschrieben, um unsere eigenen kognitiven Dissonanzen gerade zu biegen. Deshalb ist Geschichte in gewisser Weise ein eigenes Genre, denn wie sie erzählt wird, hängt davon ab, wer sie erzählt. Beispielsweise wurde die Versklavung aus US-amerikanischen Schulbüchern herausgestrichen und der Völkermord in Namibia und die Berliner Konferenz tauchen nicht in deutschen Schulbüchern auf.
Die Natur ist also die Figur, die letztendlich das hinterfragt, was unausgesprochen bleibt. Sie ist ehrlich, sie ist brutal, sie ist herausfordernd. Wenn ich schreibe, nutze ich die Umwelt zum Faktenprüfen, denn die Erde erinnert sich. Ich meine das nicht nur in einem spirituellen Sinne – obwohl sich die Idee dafür anbietet – ich meine es in einem archäologischen Sinn, denn es gibt Dinge wie Straßennamen, Grabstätten, Kohlenstoffdatierungen und DNA-Analysen. All diese Dinge füllen die Lücken in unzuverlässigen Erzählungen, die oft die Schiedsrichter*innen unserer problematischen Geschichte sind. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist Colson Whiteheads Buch Die Nickel Boys, dessen Inspiration die Dozier-Schule für Jungen in Marianna, Florida, war. Dr. Erin Kimmerle, eine fantastische forensische Anthropologin, fand dort mehr als fünfzig Gräber von misshandelten Jungen, nachdem der Staat jahrelang geleugnet hatte, dass dort irgendwer misshandelt worden war.
Ich war wirklich beeindruckt davon, wie das Stück Land, auf dem sich die Schule in dem Buch befindet, eine Figur ist, um die herum sich die Geschichte entwickelt. Dieses Stück Land wird auf eine sehr bedrohliche Weise beschrieben und sucht die Geschichte Kapitel für Kapitel immer wieder heim. Es ist allgegenwärtig; es verfolgt die Charaktere.
In meinem Aufsatz „In Search of Better Skies“ ist mein Großvater sozusagen die Verlängerung eines Grundstücks, das ihn nicht gehen lassen will. Ich verlasse mich auf das, was ich über dieses Stück Land weiß, um die Lücken in der Lebensgeschichte zu füllen, an die zu erinnern ich es als meine feierliche Pflicht empfinde. Ich habe das Gefühl, dass ich das kann, weil seine Geschichte, die ihn aus Woodland fliehen ließ, die gleiche Geschichte ist, die mich aus den USA fliehen ließ. Die Geschichte dauert an. Sie liegt uns im Blut.
In deinem Essay beschreibst du den Werdegang deines Großvaters, der gegen die Nazis kämpfte, um dann nach Georgia zurückzukehren, wo er sich – so geht die Geschichte weiter – so eingeengt fühlte, dass er wieder weiterzog, diesmal nach Florida. Gleichzeitig stellst du fest, wie seltsam es ist, dass du jetzt selbst an einem Ort lebst, der einst von den Nazis überrannt wurde. Könntest du uns mehr über die Zusammenhänge deiner eigenen Reisen und der deines Großvaters erzählen und in wie fern die Orte oder die Landschaften dein Schreiben beeinflusst haben – auch aus der Perspektive derjenigen, die Berlin für den Moment zu ihrem zu Hause gemacht hat?
Das habe ich mich schon oft gefragt. Vor einigen Jahren machten meine Eltern einen DNA-Test, um unsere ethnische Abstammung zurückzuverfolgen, und die Ergebnisse verweisen auf Bezüge nach überall – wie es für Afroamerikaner*innen typisch ist. Wir kommen aus Amerika, der Karibik, Irland und Skandinavien – und natürlich aus Westafrika.
Seitdem hatte ich eine Idee, über die ich lange nachgedacht habe, nämlich an all diese Orte zu reisen, um meine Beziehung zu Land und Leuten zu erkunden – mit einigen habe ich es tatsächlich getan. Fühlt sich einer dieser Orte für mich vertraut an oder sogar wie eine Heimat? Letztendlich sind sie in guten wie in schlechten Zeiten ein Teil von uns – mit „schlechten Zeiten“ meine ich die Versklavung.
Als Person, die auf vier verschiedenen Kontinenten gelebt und vierzig verschiedene Länder bereist hat, achte ich auf die Gefühle, die Orte in mir auslösen. Man kann es nennen, wie man will: eine Atmosphäre, eine Stimmung, aber ich hatte definitiv ein Gefühl für Berlin, als ich das erste Mal hier gelandet bin. Es könnte mit der Reise meines Großvaters zusammenhängen. Ich bin fasziniert von der Idee von Zyklen und davon, dass zukünftige Generationen unbewusst versuchen, die Probleme zu lösen, die sie von ihren Vorfahren geerbt haben.
Yaa Gyasi hat genau das in ihrem Roman Heimkehren auf unglaubliche Art und Weise untersucht. Das Buch beginnt mit dem transatlantischen Versklavungshandel im 17. Jahrhundert und endet damit, dass die Nachfahren in der heutigen Zeit für einen Urlaub nach Ghana zurückkehren.
Was mich interessiert, ist ähnlich, geht aber in eine etwas andere Richtung. Ich interessiere mich für posttraumatische Belastungsstörungen und intergenerationelles Trauma. Letzteres ist interessanterweise ein Begriff, der zuerst in Bezug auf die Kinder von Holocaust-Überlebenden geprägt wurde, obwohl er definitiv auch für Menschen der afrikanischen Diaspora gelten würde. Ich frage mich, ob dieses intergenerationelle Trauma, das in meiner Blutlinie weitergegeben wurde, mich von Florida fernhält. Ich frage mich, ob das intergenerationelle Trauma uns von unserem Zuhause fernhält, wenn dieses Zuhause uns zu zerbrechen droht. Verwässert die Flucht dann unsere ethnische Abstammung, indem sie uns zwingt, uns auf ein neues Stück Land mit einem eigenen intergenerationellen Trauma zu beziehen – das Berlin definitiv hat. Es gibt ein Buch mit dem Titel Decolonial Daughter von Lesley-Ann Brown, einer trinidadischen Frau, die nach Dänemark ging, wo sie über die Maschine des so genannten Fortschritts spricht, die auf dem Untergang unserer ethnischen Abstammung beruht. Ich betrachte meine Reise also als eine Erweiterung dessen, was mein Großvater begonnen hat: für ihn Georgia nach Florida; für mich Florida nach überall. Ich frage mich, ob es mein ein unbewusstes Bestreben ist – und ich möchte es vorsichtig formulieren – dieses Trauma aus meiner Blutlinie zu extrahieren. Das ist etwas, was ich jeden Tag aufs Neue herauszufinden versuche.
In einem Beitrag, den du kürzlich für das Gay Mag über spekulative Fiktion geschrieben hast, nutzt du ein Zitat von Toni Morrison, das die Imagination als „das letzte nicht kolonialisierte Territorium“ beschreibt. Könntest du uns zunächst deine Definition von spekulativer Fiktion geben? Und findest du, dass dieses Genre eine besondere antikoloniale oder dekoloniale Energie besitzt? Was macht spekulative Fiktion möglich?
Spekulative Fiktion ist ein Überbegriff für Literatur, die als Science-Fiction, Fantasy, Horror, dystopische, utopische, übernatürliche Fiktion klassifiziert wird – im Grunde geht es um eine Ablehnung der Realität, die wir kennen. Das soll nicht heißen, dass es niemals um Wahres handeln könnte. Die Kunst der spekulativen Fiktion besteht darin, dass sie das beschreibt, was sein könnte, und dass sie eine sensible Gratwanderung vollzieht zwischen dem, was ist, und dem, was werden könnte.
Meiner Erfahrung nach wird spekulative Fiktion oft aus den Kreisen der „literarischen Fiktion“ herausgedrängt und in eine ganz eigene Ecke gestellt, wie ein unartiges Kind. Möglicherweise entstand dieser Schreibstil auf der Basis von rebellischen Standpunkten. Ich mag das, weil ich eine sehr tiefe, brodelnde Unzufriedenheit mit dem Kanon der „traditionellen“ Literatur des Establishments verspüre. Die Bücher, die wir in der Schule lesen mussten, mit denen uns beigebracht wurde wie wir lesen und schreiben sollten, repräsentieren die problematische Perspektive weißer Männer.
Literatur ist mehr als eine Kunstform. Sie ist eine Form des Denkens und der Selbstidentifikation. Als ich aufwuchs und in der Schule Bücher von F. Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway und Joseph Conrad las, konnte ich mich mit ihren Erfahrungen, ihrem Blick und ihren Geschichten identifizieren, mehr als mit denen, die meine eigenen beschrieben. Es ging so weit, dass ich mich selbst als eine tertiäre Figur in meinem eigenen Leben betrachtete. Das liegt natürlich nicht nur an der Literatur, aber sie hatte einen enormen Einfluss auf mich als bibliophile Person und immer schon gewesene Schriftstellerin – besonders einschränkend wirkte dies auf die Art und Weise wie ich glaubte, schreiben zu können. Eine Zeit lang konzentrierten sich die Geschichten, die ich privat schrieb, auf weiße Menschen, weil ich als Kind so viel mehr darüber wusste, was es bedeutet, eine weiße Frau oder ein weißer Mann zu sein, als was es bedeutet, eine Schwarze queere Frau zu sein. Literatur, die diese Erfahrung beschrieb, musste ich aktiv suchen. Das Interessante ist, dass ich bei dieser Entdeckung viele meiner eigenen Vorurteile ablegen musste, weil ich als Jugendliche einer Gehirnwäsche unterzogen worden bin, damit ich eine Weltanschauung akzeptieren lernte, die nicht meine war. Wenn man mit dieser Art von Selbsthinterfragung beginnt, hört man nicht mehr auf. Viele der Dinge, die mein Leben beeinflussen, sind Konstrukte, die zum Nutzen anderer geschaffen wurden, aber sie sind in Wirklichkeit erfundene Dinge – Rasse und Geschlecht sind die offensichtlichsten Beispiele. Diese Dinge beeinflussen mein Leben und das Leben aller Menschen auf eine äußerst reale Art und Weise, ihnen zugrunde liegt die Idee von Unterwerfung. Als Schriftstellerin kann ich mir meine eigenen Konstrukte für die Befreiung ausdenken. Wenn ich das tue, und sei es auch nur für eine Seite, dann lehne ich im Grunde genommen gegen jahrelang staatlich geförderte Schullehrpläne, Politiken und Strukturen auf, die versuchen, mich in einer sehr engen Definition dessen zu halten, was eine Schwarze Schriftstellerin sein sollte – zugunsten von jemandem, der die Selbstbestimmung auf Kosten der Unterdrückung annimmt.
Unser nächstes Green Library Event findet am 7. Oktober 2020 statt. Die gesamte Green Library Veranstaltungsreihe wird vom Berliner Senat finanziell unterstützt.