Unterstütze poco.lit. über Steady.

Illustration von Anna Meidert

Europas Albtraum: Die Praxis der Dekolonialität

Eine Geschichte der Dekolonialität

Gewalt, die Zeit überdauert. Gewalt, die in Gleichzeitigkeit Vergangenheit und Zukunft berühren kann. Gewalt, die ihre Notwendigkeit als unendlich versteht. So beschreibt Frantz Fanon 1960 auf der Accra Positive Action Conference koloniale Gewalt. Die Analyse kolonialer Gewalt bleibt bei Fanon nicht unbeantwortet, „by any means necessary“[1] mit allen erdenklichen Mitteln, ist einer seiner Aufrufe zur Überwindung des Kolonialismus.

Die indigenen Bevölkerungen, sowie die verschleppten und vertriebenen Menschen der kolonisierten Staaten fordern mit der Dekolonisierung die Wiederherstellung einer eigenen Ordnung, das Recht auf ihr Eigentum und ihr Land, das Recht auf ihre Ressourcen, ihre Autonomie, ihre Kultur und die Souveränität über ihre Körper ein. Die dekoloniale Sehnsucht ist es, eurozentrische Modelle für die Gesellschaften und Menschen des globalen Südens zu verwerfen und in Abwesenheit von Europa aufrichtige[2] und selbstbewusste Gemeinschaften zu erschaffen. So manifestierte sich der Aufruf zur dekolonialen Gewalt durch zahlreiche Befreiungsbewegungen, die die Worte Fanons von Maryland in die Peripherien und Plantagen des globalen Südens übersetzen.

Trotz ihres gemeinsamen Ursprungs im Wunsch der Demontierung europäischer Kolonialsysteme sind diese Befreiungsbewegungen vorrangig durch ihre Heterogenität und Widersprüchlichkeit gekennzeichnet. Weder die Unabhängigkeitserzählungen noch die Widerstandspraxen kolonisierter Gesellschaften existieren synchron zueinander, vielmehr erzeugen regionale Antworten auf den Kolonialismus, wie der Panarabismus oder der afrikanische Sozialismus, unauflösliche Konflikte. Beide Ideologien adressieren, unter anderem, die Befreiung Schwarzer, arabischer Menschen, bieten jedoch unterschiedliche Visionen für die Organisation der post-kolonialen Gesellschaft an. Während der Panarabismus die arabische Identität in den Vordergrund rückt und für eine sozialistische und chauvinistische Zentralregierung wirbt, betont der afrikanische Sozialismus die Notwendigkeit dezentraler, partizipativer und regionaler Organisation. Die Praxis der Befreiung hingegen existiert nicht isoliert voneinander. Die Theorien, Verletzungen und die Wut kolonisierter Menschen migrieren und tauschen sich miteinander aus.

Somit ist die Dekolonisierung der historische Prozess, der die koloniale Ordnung irritiert und zwei gegensätzliche Kräfte miteinander konfrontiert. Dabei beginnt die Geschichte der Dekolonisierung zeitgleich mit der des Kolonialismus, denn mit dem Auftreten des Kolonialismus entsteht auch antikolonialer Widerstand.

Im Zuge der Unabhängigkeitsbewegungen, die von dekolonialer Gewalt geprägt war, konnte daher eine Dimension der kolonialen Gewalt, nämlich die politische, erschüttert werden. Doch das weitreichende koloniale System, seine koloniale Bürokratie und seine historischen Kollaborateure, wie beispielsweise Universitäten und andere Institutionen, blieben. Die selben Ideologien, die vormals von Europäer:innen propagiert worden waren, wurden nun von Schwarzen und nicht-weißen Körpern reproduziert. Der Kolonialismus hatte sich vervielfältigt. Bei der Staatsgründung postkolonialer Staaten wurde häufig die koloniale Infrastruktur oder die koloniale Bürokratie übernommen. Wodurch der Kolonialismus sich konservieren konnte. Die Dominanz und Überheblichkeit der kolonisierenden Europäer:innen lebt nicht nur in der Wirtschaft oder Politik weiter, sondern auch in der Mode, Kunst, der Musik oder dem Tanz. All diese Momente können kolonial-kontaminiert sein.

Im deutschsprachigen Raum erfolgte die Auseinandersetzung mit dem europäischen Kolonialismus für lange Zeit aus einer beobachtenden und passiven Perspektive. Die eigene koloniale Vergangenheit wäre im Vergleich zu der Kolonialgeschichte anderer europäischer Staaten so kurz und unbedeutend gewesen, dass sie keinen Eingang in die kollektive Erinnerung gefunden habe. Auch dass der erste Genozid des 20. Jahrhunderts das Produkt der deutschen Kolonialherrschaft war, wird eher in einer Randnotiz vermerkt.

Die Aufarbeitung der systematischen und repressiven Beherrschung und Ausbeutung der Territorien des globalen Südens erfolgt, wenn überhaupt, oberflächlich. Häufig werden Diskussionen schon im Keim erstickt, indem die beherrschten Territorien nachträglich als ‚unentdeckt‘ oder ‚unbeansprucht‘ dargestellt werden, um die illegitime Aneignung zu rechtfertigen. Dieses Märchen der Unentdecktheit verbirgt eine tiefe Logik der weißen Überlegenheit, die bis heute in verschiedenen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Sphären fortbesteht und im Grunde aussagt, dass Dinge erst anfangen zu existieren, wenn der weiße Mensch sie zur Kenntnis nimmt.

‚Decolonize‘ als Modeerscheinung

Die heutigen Herrschaftsverhältnisse sind demnach die direkte Folge der kolonialen Aufteilung der Welt und insbesondere der Organisation und Beschaffenheit von Arbeit seit der Kolonisierung der Amerikas. Weshalb heute nicht mehr vom Kolonialismus, aber von Kolonialität gesprochen werden kann. Das Identifizieren von Kolonialität formuliert gleichzeitig eine Intervention. Wer Kolonialität benennt, dezentriert Europa als geohistorisches Zentrum der modernen Welt. Wer Kolonialität benennt, sieht die Notwendigkeit von Dekolonialität und somit einem Zustand in dem Kolonialität demaskiert und hinterfragt wird.

Wie ein Lauffeuer verbreitet sich der Aufruf zur dekolonialen Intervention seit einigen Jahren in den Großstädten westeuropäischer Staaten. Die Forderung zur Dekolonisierung, die vom globalen Süden in den globalen Norden migriert ist, ist die Über-Setzung der Befreiungskämpfe kolonisierter Schwarzer und nicht-weißer Menschen in eine neue Zeitlichkeit und Geografie.

„Dekolonisiert die Klimakrise“ oder „dekolonisiert das Humboldtforum“ sind einige prominente Aufrufe, die in den letzten Jahren Eingang in die Nischendiskussion um Dekolonialität gefunden haben. Plötzlich erscheinen immer weitere Formate wie Podcasts oder öffentlich geförderte Panels, die sich dem Thema der Dekolonisierung annehmen. Begleitet werden diese intellektualisierten Diskussionen mit passendem Merch und ästhetischen Stickern, die anschließend brav auf das Macbook geklebt werden. Der historische Befreiungskampf der kolonisierten Welt verwandelt sich in Europa in ein Kommerzfestival. Dekoloniale Theorien werden in mundgerechte Stücke für das europäische Publikum geschnitten und anschließend in Form von Sachbüchern als Bestseller verkauft. Das Besprechen rassistischer Strukturen ist erlaubt, auch die Forderung nach mehr Repräsentation Schwarzer und nicht-weißer Körper wird wohlwollend von Mandatsträger:innen im Notizheft vermerkt. Dabei hat das Verhandeln um Anerkennung eher wenig mit einer dekolonialen Intervention zu tun. Dekolonialität ist ein Zustand der völligen Umstrukturierung der bestehenden Ordnung, nicht das Betteln um einen Platz an der Sonne.

Inspiriert von der historischen Praxis der Kolonisierung muss Dekolonialität eine zeitgenössische Antwort auf die koloniale Matrix sein, die uns im Alltag beispielsweise durch Rassismus, das Patriarchat oder weißer Überlegenheit begegnet. Dekolonialität fordert die radikale Umgestaltung der Welt, der Perspektiven und Positionen, die durch weiße Rationalität geprägt sind. Dekolonialität hinterfragt eurozentrisches Wissen und Hierarchien und demaskiert Europas selbstdienliche Narrative, wie das der Universalität. Restrukturierung und Zerstörung der Logiken des Kolonialismus, sind sinnstiftend für Dekolonialität.

Effektiv könnten weiße Strukturen nie Verhandlungs- oder Ansprechpartner:innen sein, da eine dekoloniale Intervention darauf abzielt die Bedürfnisse Schwarzer und nicht-weißer Menschen nicht länger in die Sprache der Herrschenden zu übersetzen. Dekolonialität ist der Versuch Spuren der weißen Gewalt zu erkennen, zu verstehen und zu überwinden und dabei in erster Linie die Heilung und die Befreiung Schwarzer und nicht-weißer Menschen zu zentrieren. Der Prozess der Dekolonialität kann facettenreich, widersprüchlich und fragmentiert sein, aber keinesfalls ist sie durch die öffentlichen Mittel der herrschenden Klasse finanziert.

[1] Die Formulierung „by any means necessary” erscheint fünf Jahre später, 1965, in einer Rede von Malcolm X erneut, die von Fanons Aufruf zu befreiender Gewalt inspiriert ist.

[2] Das Konzept der Aufrichtigkeit ist ein antikoloniales Selbstverständnis. Fanon schreibt dazu: „Under the colonial regime, gratitude, sincerity, and honor are empty words.” (Fanon 1963: 295) Inspiriert von dekolonialen Denker:innen nennt Thomas Sankara Obervolta 1984 in Burkina Faso (aus dem Dioula übersetzt für: Land des aufrechten Menschen), um.

Werde Steady-Mitglied von poco.lit.

So unterstützt du unsere Arbeit im Abo monatlich oder jährlich.