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Portrait von Abeer Ali

„Wir brauchen mehr Freiheit, sein zu dürfen, wie wir sind“: ein Interview mit Abeer Ali

Unfamiliar ist eine Theateraufführung mit Tanz und Musik, bei der die Stile und Traditionen, die die Teilnehmenden mit ihren verschiedenen Hintergründen mitbringen, miteinander verbunden werden. Es geht um Themen wie Migration, Erinnerung und Sprache und ist eine nostalgische Reise durch die Städte Alexandria, Damaskus und Berlin. Unfamiliar ist als Teil des Projekts Hescheck Bescheck entstanden, einer Theaterkooperation von Frauen unterschiedlicher Herkunft, die in Berlin leben und mithilfe von Musik, Tanz, Theater und anderen Ausdrucksformen Geschichten erzählen.

Das Projekt wurde von Abeer Ali gegründet. Sie lebt als freischaffende Künstlerin in Berlin und hat fast zwanzig Jahre Theatererfahrung. Nach ihrem Theaterstudium in Ägypten wurde Ali Theatermacherin, Schauspielerin, Sängerin und Geschichtenerzählerin. Sie hat an zahlreichen internationalen Theaterfestivals teilgenommen und wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem als beste Nebendarstellerin des Nationalen Theaterfestivals in Ägypten. Derzeit ist Ali Teil des Ensembles Multiplex am Expedition Metropolis Theater, des Projekts Young Mind Lab der Theatergruppe SISYPHOS und des Projekts Musikmacher an der Hans-Werner-Henze-Musikschule. Am 23.07.2022 präsentierte sie eine Ausstellung und Live-Performance für den Rundgang an der UDK Berlin. Außerdem wurde sie dieses Jahr für Unfamiliar mit dem Artist Training Preis ausgezeichnet.

Was genau ist Hescheck Bescheck und wie kam es zur Gründung dieses Projekts? 

Das Projekt begann im Jahr 2019, als ich von Kairo nach Berlin zog. Davor war ich Teil einer Theatergruppe in Kairo. Wir haben Geschichten erzählt, getanzt, gesungen und Musik gemacht und versucht, all das miteinander zu verbinden und Menschen zu empowern. Aber das Projekt in Kairo war nicht auf Gender ausgerichtet. Es war für professionelle Amateur*innen. Als professionelle Schauspielerin wurde ich Teil dieses Projekts und lernte dann zu singen, zu tanzen und zu musizieren.

Dieses Projekt inspirierte mich. Es heißt Elwersha, was Werkstatt bedeutet: Die Elwersha-Theatertruppe in Kairo. Ich habe mich davon inspirieren lassen und bin dann hierher [nach Berlin] zu meinem Mann gezogen. Ich war kurz davor, mein erstes und einziges Kind zu bekommen. Ich versuchte, etwas zu finden, was ich in Berlin machen könnte, und einen Platz für mich als Künstlerin und als Frau in der Berliner Kunstszene zu finden. Ich fand ein paar Freundinnen. Eine spielt Oud, ein altes arabisches Musikinstrument, und die zweite hat ein großes Talent für Perkussion. Die eine war Ägypterin, die andere Deutsche. Wir beschlossen, gemeinsam zu jammen und zu probieren, ein paar traditionelle arabische Lieder zu spielen. Wir kamen zusammen und dann hatte ich die Idee, dass wir den Raum für weitere Frauen öffnen könnten.

Es passierte so plötzlich, dass wir drei zusammenkamen, und es wurde zu einem sicheren Raum für uns als Frauen, insbesondere als Frauen mit Migrationshintergrund. Wir haben also mit Musik angefangen, wollten aber schon bald auch gerne über unsere Situationen sprechen, Geschichten erzählen, über die Länder, die wir verlassen hatten, und die Konflikte, die wir erlebt hatten. In unseren Herkunftsländern hatten wir versucht, uns die Freiheit zu nehmen, wir selbst sein zu können. In Deutschland führen wir als Ausländerinnen ganz andere Kämpfe. Es gibt hier viele Barrieren.

So kam es, dass wir einen Rahmen fanden, in dem wir all diese Ideen zusammenbringen konnten. Wir wollten genau das tun, wofür es uns vorher an Möglichkeiten, Freiheit oder zeitlicher Flexibilität gefehlt hatte, weil wir noch studierten. Wir hatten keine Unterstützung von der Community oder unseren Familien, um uns im Theater und in der Kunst auszudrücken.

Dann haben wir uns ein bisschen geöffnet und angefangen, andere Leute für das Projekt zu gewinnen, und jedes Mal und nach jedem Auftritt wurden es mehr Leute, die daran interessiert waren, mitzumachen, die ähnliche Kämpfe oder unterschiedliche Erfahrungen teilen wollten.

Hescheck Bescheck scheint sich auf Frauen und ihre Erfahrungen zu konzentrieren. Wie haben sich die Prozesse und Strukturen dieses Projekts entwickelt?

Wir waren immer schon eine gemischte, diverse Gruppe. Arabische Frauen, deutsche Frauen und europäische Frauen machen mit. Außerdem haben wir Leute aus Lateinamerika eingeladen. Unser Wunsch war es, mehr Frauen aus verschiedenen Ländern kennen zu lernen. Grundsätzlich ist es ein Projekt für Frauen, um Musik zu machen, Geschichten zu erzählen, zu tanzen, Instrumente zu spielen, zu singen und unsere Identität durch die darstellenden Künste auszudrücken. Die Gruppe ist von Projekt zu Projekt und von Aufführung zu Aufführung unterschiedlich, ihr Gesicht wechselt. Manchmal können wir mehr Leute einladen, manchmal führen wir ein kleines Konzert mit einer begrenzten Personenzahl durch, weil wir keine Zeit haben.

Letztes Jahr hatte ich ein „Weltoffenes Berlin“ Stipendium und habe mit dem Theater Expedition Metropolis in Kreuzberg zusammengearbeitet. Ich hatte also ein Jahr lang eine Finanzierung. Wir haben viele Workshops angeboten, und zwar nicht nur für Frauen, sondern für alle Menschen. Es wurde getrommelt und getanzt, usw. Letztes Jahr sind wir bei den Kreuzberger HofFestSpielen im Theater Expedition Metropolis aufgetreten, das war eine Präsentation der Ergebnisse der verschiedenen Workshops. Nicht alle Teilnehmer*innen haben mitgemacht, aber die meisten, die sich für diese Arbeit engagiert haben, waren bei der Aufführung dabei. Ich glaube, es waren etwa 14 Frauen, die zusammen auf der Bühne standen. Bei einer internen Veranstaltung eine Woche davor, waren es mehr als 20 Frauen auf der Bühne. Es war eine ganztägige Veranstaltung. Jeder Workshop gab eine Abschlusspräsentation, es fand ein Tanzworkshop und eine Kochshow statt. Wir hatten am selben Tag verschiedene Konzerte in verschiedenen Sprachen, auf Arabisch, auf Deutsch und Englisch und eins mit anderer internationaler Musik.

Unfamilar ist eine Theateraufführung, die als Teil des Hescheck Bescheck Projekts entwickelt wurde. Worum geht es in der Show? Was hat sie inspiriert?

Die Idee entstand kurz nachdem wir die Einladung zur Teilnahme an der Aktion erhalten hatten. Wir wollten unsere eigene Arbeit präsentieren und stellten fest, dass wir ungewöhnliche Dinge tun, was z.B. unsere Namenswahl bestätigt: Hescheck Bescheck. Das bedeutet, dass Frauen sich trauen zu tanzen, in arabischen Ländern zu tanzen und zu musizieren, auch wenn das in konservativen Communitys verboten ist. Wir machen also Dinge, die ungewöhnlich klingen.

Wenn ich hier [in Berlin] jemandem erzähle, dass das Projekt Hescheck Bescheck heißt, sagen sie „ach so ein seltsamer Name“, weil es ein ungewöhnlicher Name ist und es ungewöhnlich ist, ein Projekt so zu nennen. Wir haben gemeinsam beschlossen, uns mehr mit der Idee zu beschäftigen, Dinge zusammenzubringen. Also ungewöhnliche Dinge zu tun, eine ungewöhnliche Person in einem neuen Land zu sein und sogar in der alten Heimatstadt als ungewöhnlich wahrgenommen zu werden. Man wirkt ungewöhnlich auf andere Menschen und findet sich irgendwann auch selbst ungewöhnlich.

Wenn wir Musik aus unterschiedlichen Regionen spielen, kombinieren wir verschiedene Klänge, z. B. vermischen wir arabische Melodien mit westlichen und östlichen, türkische Melodien mit deutschen. Am Ende klingt es ungewöhnlich, weil die Leute so etwas sonst nicht hören.  Eine Musik, die mit einer anderen verschmilzt: Wir machen ungewöhnliche Musikstücke und produzieren dabei ungewöhnliche Melodien. Dabei sprechen wir darüber, was an unseren aktuellen Situationen ungewöhnlich ist, oder über das Ungewöhnliche, was uns früher begegnet ist.

Das ist der Kern unseres Konzepts: Wir nutzen ungewöhnliches Material für unsere Musik, unsere Geschichten und so werden auch die Tänze, die diese Präsentationen begleiten, ungewöhnlich. Innerhalb der Gruppe haben wir uns entschieden, uns mit drei verschiedenen Städten auseinanderzusetzen.

Unfamiliar beschäftigt sich mit Alexandria, Damaskus und Berlin. Wieso sind es ausgerechnet diese drei Städte? Was repräsentieren sie?

Jede dieser Städte spielt eine wichtige Rolle in einem Lebensabschnitt eines Gruppenmitglieds. Je ein Segment oder eine Szene spielt in Alexandria, Ägypten, in Damaskus, Syrien und in Berlin, Deutschland, um unsere Ideen und Gefühle zusammenzufassen. Von da aus überlegten wir weiter. Was ist ungewöhnlich? Das, was in Alexandria passiert. Was noch? Mein Herz und mein Verstand sind in Alexandria. Was noch? Das Gefühl in Berlin zu leben und mit Alexandria verbunden zu sein. Also habe ich eine Geschichte über diese Ideen geschrieben und dann haben wir sie mit Soundeffekten oder einem Alexandria-Soundtrack kombiniert. So entstand eine klangliche Umgebung der Stadt mit einigen visuellen Elementen.

Mit Syrien verhielt es sich ähnlich. Ich bat zwei meiner Kolleginnen eine Geschichte über Damaskus zu schreiben und die Grundidee war dieselbe: Diese Verwirrung, dass ich mich dort nicht wohl fühle, aber immer noch mit der Stadt verbunden bin und gerne zurückkehren würde. Aber gleichzeitig möchte ich, dass sich einiges dort verändert. Ich vermisse Damaskus und ich vermisse es nicht, weil ich mich auch in Berlin irgendwie wohl fühle, nur manchmal nicht, denn ich bin immer noch anders und die Leute hier schauen uns gerne an und erwarten, dass wir perfekt sind. Aber wir sind nicht perfekt.

Das ist der Stress, den Berlin auf uns ausübt. Berlin ist die letzte Szene, das letzte Segment. Wir beschlossen, über Berlin als einen großen Hauptbahnhof zu sprechen. Die Leute kommen und reisen wieder ab. Sie bleiben nur für einige Zeit. Wir stellen keine intime Beziehung mit Berlin dar. Die Stadt ist verrückt, sie ist schnell. Wir wollten die Klangumgebung von Berlin mit Instrumenten und DJs ins Leben rufen. Zusätzlich gab es visuelle Elemente.

Die ersten beiden Geschichten über Alexandria und Damaskus erzählten wir auf Arabisch, für Berlin wechselten wir ins Deutsche. Für die ersten beiden Szenen boten wir eine deutsche Übersetzung an und für die dritte eine arabische. Nicht nur die Deutschsprachigen sprachen Deutsch, sondern auch die Arabischsprachigen sprachen Deutsch, also haben wir Dinge kombiniert und verschoben.

Was sollen Zuschauende mitnehmen? Welchen Effekt soll Unfamiliar auf sie haben?

Ich mag dieses nostalgische Gefühl, das die Leute haben; dass man sie an einen anderen Ort versetzen und sie an etwas erinnern kann, das sie vielleicht ähnlich erlebt haben. Sie können sich mit dem, was wir aufführen, identifizieren. Man berührt wirklich etwas in ihnen. Deshalb bin ich dankbar, dass ich diese Art von Arbeit machen darf. Wenn ich einen Bezug zu den Menschen habe und sie an sich selbst erinnere, wenn sie kurz vor dem Weinen sind…

Ich liebe dieses Projekt, weil ich das Gefühl habe, Menschen damit wirklich zu berühren. Ich trete auf und diskutiere bestimmte Themen, weil wir mehr Freiheit brauchen, sein zu dürfen, wie wir sind, egal wo wir sind. Wir brauchen mehr Freiheit, um hier in dieser Zeit und an diesem Ort zu sein. Das gilt natürlich besonders für Frauen, besonders für Frauen mit arabischem Hintergrund.

Wir bringen die Nostalgie nicht mit, weil wir uns nach Hause zurücksehnen oder unsere Vergangenheit vermissen. Sondern weil es ein Kreislauf ist: Das Ziel hinter unserer Arbeit ist eine inklusivere Zukunft für uns als Menschen und – natürlich – für uns als Frauen. Das ist es, wonach ich hier in Berlin wirklich suche. So können wir gemeinsam am selben Ort und zur selben Zeit Inklusion leben, ohne Barrieren, ohne Stereotype. Darauf bin ich wirklich stolz. Wir treten als 12 Frauen auf, mit drei deutschen Frauen, einer Italienerin, einer Kurdin, drei Ägypterinnen, zwei Syrerinnen. Alle sind sehr kreativ und engagiert und unterstützen sich gegenseitig.

Haben Sie noch ein paar Worte zum Abschluss dieses Interviews?

Ich möchte noch die Namen aller Beteiligten nennen. Es geht um uns als Gruppe. Oft werde nur ich für Interviews angefragt, aber alle Beteiligten leisten großartige kreative Arbeit:

Valentina Bellanova, Storywriter, Erzählerin, Musikerin, Nai.

Dima Dawood, Musikerin, Qanun.

Berivan Ahmed, Musikerin, Perkussion.

Ronda Ramm, Storywriter, Erzählerin, Sängerin, Musikerin, Gitarre.

Anna Boehme, Storywriter, Erzählerin, Sängerin, Musikerin, Klarinette.

Kristiane Fehrs, Storywriter, Erzählerin, Sängerin, Musikerin, Violine.

Shadia Abu Hemdan, Storywriter, Erzählerin, Sängerin.

Hend Taher, Storywriter, Erzählerin, Tänzerin.

Dina Abdulhafez (Nougaa), Tänzerin.

Seba Ali Mahmoud, Visual Artist.

Basma Mostafa, Kamera.

Yara Mekawei, Ton.

Sawi Laila, Licht.

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