Behinderung und Übersetzung: Über das Recht auf Selbstbezeichnung
In Kooperation mit den Goethe-Instituten in Nordwesteuropa veranstaltete poco.lit. vor Kurzem eine Online-Diskussion über Behinderung und Übersetzung. Dr. Khairani Barokka, eine behinderte minang-javanesische Schriftstellerin und Künstlerin aus Jakarta, und Amy Zayed, eine deutsch-ägyptische Journalistin, boten wertvolle Einblicke in die Thematik. Lisa Nechutnys, die derzeit das Übersetzungsprojekt macht.sprache. unterstützt, moderierte die Diskussion. Es folgt ein Überblick über die Kernthemen der Veranstaltung, die sich auf konkrete Begrifflichkeiten im Zusammenhang mit Behinderung bezog, einige pragmatische Hinweise für das Übersetzen bot und Verbindungen zwischen Gerechtigkeit für Menschen mit Behinderung und Antikolonialismus aufzeigte.
Menschen mit Behinderung sind die größte Minderheit der Welt, und das ist eine Tatsache, auch wenn nicht alle Menschen ihre Einschränkung offiziell machen (z.B. mit einem Antrag auf die Feststellung des Grades der Behinderung, GDB). Behinderung ist etwas überaus Vielfältiges, besonders weil innerhalb der Behinderten-Community auch andere Machtunterschiede bestehen. Aber Khairani Barokka (Okka) erklärt, dass es dennoch verbindende Aspekte gibt: „Alle, die chronisch krank sind, die Teil der Behinderten-Community sind, müssen ständig übersetzen, was es heißt, ein Mensch zu sein. Andere können einen unmöglich verstehen, solange sie nicht buchstäblich im gleichen Körper stecken.“ Dennoch können alle mehr Bewusstsein für die verschiedenen Bedingungen entwickeln, die das Leben von so vielen Menschen prägen.
Mehr Bewusstsein für Behinderung kann mit sprachlichen Veränderungen beginnen oder zumindest damit verbunden sein. Amy Zayed argumentiert jedoch, dass Gesellschaften auf jeden Fall auch ein anderes Verständnis von Behinderung lernen müssen. So ist sie nicht davon überzeugt, dass die Einführung neuer Begriffe, die nicht auf der Idee von körperlichen Fähigkeiten basieren – wie z. B. Metaphern oder Ausdrücke für Bewegungen, aktuell die höchste Priorität haben sollte. In der deutschen Sprache wird in vielen Ausdrücken „gehen“ oder „sehen“ verwendet, was die Erfahrung von Menschen im Rollstuhl oder blinden Menschen ausschließen könnte. Als blinde Person kennt Amy diese Frage gut und sie erklärt: „Es ist eine berechtigte Frage. Aber wenn man blind ist, ist man nicht unbedingt völlig blind. Blindheit bedeutet, dass man weniger als 2 % sieht. Wir haben meistens durchaus eine Vorstellung davon, was Sehen bedeutet. Deshalb würde ich nie sagen: ‚Hast du den Film gehört?‘ Ich sage auch: ‚Ich habe den Film gesehen.‘ Aber natürlich mit dem geringen Sehvermögen, das ich habe“. Dennoch gibt es tatsächlich Ausdrücke, die man vermeiden sollte. Okka macht das sehr deutlich: „Ich hasse es, wenn Leute ‚blinder Fleck‘ als Metapher verwenden. Blindheit wird oft benutzt, um etwas Negatives auszudrücken. In Bezug auf Race passiert etwas Ähnliches. Schwarz ist in vielen Kulturen negativ konnotiert.“ Zahlreiche Faktoren spielen eine Rolle dabei, wie Worte bei anderen ankommen: Kontext, Tonfall, Hierarchie und kulturell geprägte Formen des Respekts, aber ein Identitätsmerkmal nicht als etwas Negatives zu verwenden, kann durchaus als Faustregel angewendet werden.
Die Vielfalt innerhalb der Behinderten-Community und das Widersetzen gegen ein normatives Verständnis von Behinderung führen dazu, dass die Begrifflichkeiten rund um Behinderung variieren. Okka betont: „Das Wichtigste, was ich Menschen mit auf den Weg geben möchte, ist, dass alle das Recht haben sollte, sich selbst zu bezeichnen. Manchmal bedeutet das, dass jemand ein Wort für eine Einschränkung verwendet, die ich möglicherweise auch habe, mit dem ich nicht unbedingt einverstanden bin. Aber wenn ich die Lebensgeschichte der Person nicht kenne, kann ich nicht wissen, wie sie zu ihrer Art zu denken gekommen ist.“ Die beiden Diskutantinnen liefern ein perfektes Beispiel: Während Amy die „Person zuerst“ Ausdrucksweise bevorzugt (Mensch mit Behinderung), wählt Okka für sich die „Identität zuerst“ Option (behinderte Person). Ein Argument für Okka ist, dass im Englischen das Gegenteil von „disabled“ (behindert) „enabled“ (befähigt) ist und nicht „unable“ (unfähig). Ihre Begriffswahl unterstreicht also die Rolle der Gesellschaft, die dazu beiträgt, dass Menschen behindert werden. Okka und Amy sind sich jedoch einig, dass behindert und Behinderung absolut akzeptable Begriffe sind. Mit ihrem Twitter-Hashtag #TactfulnessIsEmotionalCancer setzte sich Amy bereits in der Vergangenheit dafür ein, dass Menschen die Dinge so sagen, wie sie sind. Amy erklärt: „Als blinde Person bleibt mir nur die Sprache. Ich wünschte, Menschen würden mehr mit Worten kommunizieren.“ Weder Okka noch Amy wollen als „Menschen mit besonderen Bedürfnissen“ bezeichnet werden. Amy betont noch einmal, „wir werden von der Gesellschaft behindert.“
Pragmatische Hinweise für das Übersetzen
Die Veranstaltung bot sogar einige pragmatische Ratschläge für Übersetzer:innen in Bezug auf Begrifflichkeiten für marginalisierte Gruppen. Es ist eine besonders schwierige Aufgabe, passende Begriffe zu finden, wenn Übersetzer:innen das Recht jeder Person respektieren wollen, sich selbst bezeichnen zu dürfen – vor allem, wenn es keinen Konsens darüber gibt, was der sensibelste Begriff ist. Sowohl Okka als auch Amy haben eine einfache Antwort: „Fragt uns einfach, wir sind absolut fähig Aussagen zu treffen, wir haben eine Stimme!“ Aber Übersetzer:innen – oder eigentlich alle – sollten es respektieren, wenn Menschen mit Behinderung ihnen eine Antwort verweigern. Oft machen gehörlose Menschen und Menschen mit Einschränkung die Erfahrung, dass sie ohne ihre Zustimmung sehr persönliche Erfahrungen preisgeben müssen.
Wenn Übersetzer:innen mit einem Text arbeiten, in dem eine behinderter Figur vorkommt und sie diese möglicherweise fiktive Person nicht nach ihrer bevorzugten Selbstbezeichnung fragen können, ist es wichtig, sich zu überlegen, um welche Art von Text es sich handelt – ob es sich um Belletristik, einen Rechtstext oder einen Essay handelt und wie er geschrieben wurde. Amy weist darauf hin: „Wenn die Autor:innen den Begriff behindert verwenden, sollten Übersetzer:innen besser nicht besondere Bedürfnisse daraus machen.“ Okka erzählt, dass sie schon mal diskriminierungssensible Lektorate gemacht hat. Die Autor:innen der Originaltexte zu kontaktieren, um die Terminologie und die Absicht dahinter zu besprechen, wäre eine weitere Option.
Gerechtigkeit für Menschen mit Behinderung als antikoloniale Praxis
Ableismus ist Teil von kapitalistischem Kolonialismus. Diskriminierung von Menschen mit Behinderung kann nicht isoliert betrachtet werden, was Amy unterstreicht, indem sie darauf hinweist, dass sie als Ägypterin in einer kleinen Stadt in Deutschland aufgewachsen und außerdem zufällig blind ist. Während sie groß wurde, begegneten ihr immer wieder die Fragen: „Woher kommst du?“ und „Warum bist du blind?“ Häufig kamen sie von weißen Personen. Diese Fragen sind Teil einer Praxis, die als „Othering“ oder Andersmachen bezeichnet wird. Während diese Fragen sie manchmal immer noch ärgern – je nachdem wie sie die Intention der Fragenden einschätzt – sagt Amy, dass sie heutzutage dennoch einen Austausch bevorzugt. Schweigen sei schlimmer.
Laut Okka sollte ein solcher Austausch unbedingt beinhalten, zu hinterfragen, wie Normen und Vorstellungen von Differenz entstanden sind. Sie erklärt, dass es in der javanesischen Kultur behinderte Götter gibt. Aber als die Niederlande begannen, Indonesien zu kolonisieren, musste alles, was als „anders“ wahrgenommen wurde, eliminiert werden – die kolonialen Ideen setzten durch, dass taube Menschen, blinde Menschen oder kleinwüchsige Menschen eliminiert oder „geheilt“ werden sollten. In Indonesien entstand mit dem Kolonialismus mehr Ableismus, weshalb Okka erklärt: „Für mich ist die Wiederaneignung von Behinderung ein Teil antikolonialer Arbeit.“
Das Gespräch mit Okka und Amy kann als Erinnerung daran verstanden werden, dass wir alle unsere Annahmen ständig hinterfragen sollten. Wenn es um Begrifflichkeiten und Übersetzungen geht, kann ein Bauchgefühl irreführend sein. Zusätzliche Recherche oder sich die Meinung eine:r Expert:in in eigener Sache einzuholen, führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu besserer Arbeit.