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Wem gehört die Welt der Weltliteratur? Über Weltliteratur und Postkolonialismus

Viele Texte zum Thema Weltliteratur verweisen irgendwann, wenn es um ihre Entstehungsgeschichte geht, auf Goethe, der das Wort im Jahr 1827 prägte. Damit beginnt die Auseinandersetzung mit der Weltliteratur innerhalb eines europäischen Rahmens. Man könnte aber auch einen anderen Ausgangspunkt wählen. Ein Beispiel: Im Jahr 1907 wurde Rabindranath Tagore, eine zentrale Figur der bengalischen Literatur, gebeten, einen Vortrag über vergleichende Literatur zu halten. Er entschied sich stattdessen, über Vishwa Sahitya zu sprechen. Die meisten Übersetzungen dieses Begriffs aus dem Bengalischen schlagen Weltliteratur als deutsche Entsprechung vor, aber ein wenig Lektüre zum Thema (und ich sage das als Person, der leider kein Bengali lesen kann) würde sicherlich nahelegen, dass der Begriff neben Weltliteratur auch noch einige andere Bedeutungen haben kann.

 Vor ein paar Jahren wurde Weltliteratur in der Wissenschaft zu einem heißen Thema – auch unter denjenigen, die in den Postcolonial Studies tätig sind. Es wurde darüber debattiert, was Weltliteratur ist, was sie nicht ist und was sie sein sollte. Ein großer Teil dieser Diskussion schien aus der Frustration über die Grenzen dessen hervorzugehen, was historisch als Weltliteratur verstanden wurde. Oft folgte eine Forderung nach struktureller Kritik an den bisher bestehenden Kriterien, die dazu dienen Texte als Weltliteratur zu kategorisieren (oder nicht). Es ging um die Frage, welche Stimmen einen Kanon von Literatur bilden, der als weltgewandt (und lesenswert) gilt, und welche nicht – welche Teile der Welt in solchen Konstruktionen gesehen werden und welche nicht. Anglophone Universitäten nehmen vielleicht immer noch eher, sagen wir, Sartre und Kafka in Übersetzung in ihre Lehrpläne auf, während z.B. Sol Plaatje oder Mulk Raj Anand wesentlich seltener der gleiche Platz eingeräumt wird.

Aus Sicht der Disziplin der vergleichenden Literaturwissenschaften könnte dieser Wunsch, Weltliteratur neu zu gestalten, mit einer gewissen Ermüdung zu tun haben. Bis Dato wurde zumindest in vielen institutionellen Versionen der vergleichenden Literaturwissenschaften von „nationalen“ Literaturen ausgegangen – ein analytischer Rahmen, der immer weniger Sinn macht, je sichtbarer Literatur wird, die migriert und Grenzen jeder Art überschreitet, Literatur, die über Migration, von und für Migrant:innen ist.

Nach dieser grundsätzlichen Kritik über die Bedeutung von Weltliteratur wird klar, dass diese einer deutlichen Erweiterung bedarf. Die besondere Hervorhebung von Werken aus Nordamerika und Westeuropa hat zu einer Überrepräsentation nordamerikanischer und westeuropäischer Erfahrungen geführt. Ein Weltliteratur Kanon, der an diesen Tendenzen festhält, wird nicht durch das gelegentliche Hinzufügen eines Textes aus dem globalen Süden zu Alibizwecken korrigiert. Das, was Weltliteratur ist, muss grundlegender erweitert werden, um vielfältige Darstellungen sinnvoll einzubeziehen.

Das führt mich zu dem zweiten Strang der Kritik, der sich auf das „Wie“ der Weltliteratur bezieht. Dabei geht es nicht nur um die Frage, was die Aufnahme eines Textes in den Kanon der Weltliteratur rechtfertigt, sondern um die Bedingungen, unter denen diese Art der Legitimation erfolgt, und um die Art und Weise, wie Texte unter den etablierten weltliterarischen Grundannahmen angegangen und gelesen werden. Der Kolonialismus konstruierte eurozentrische Methoden der Wissensproduktion als universell: Als Repräsentation einer Norm, an der sich Kolonisierte messen lassen sollten (und denen so stets Unzulänglichkeiten zugeschrieben werden konnten). Das hatte auch Auswirkungen auf die Ästhetik, auf das, was als schön gilt, und auf das, was in literarischer Hinsicht als gut und wertvoll erkannt wird. Die Aufnahme eines breiteren Spektrums literarischer Stimmen in einen erweiterten Kanon der Weltliteratur mag ein guter Anfang sein, aber wenn diese Stimmen anschließend weiterhin nach eurozentrischen Normen und Methodologien gelesen werden, reicht die Veränderung nicht aus. So bleibt weiterhin die Gefahr von Exotisierung und Vereinnahmung bestehen.

Vordenker:innen wie Gayatri Spivak, wohl eine der bekanntesten Wissenschaftlerinnen der Postcolonial Studies, äußerten Bedenken gegen einige der Ansätze, die mit dem Aufkommen des Modebegriffs Weltliteratur einhergingen. Zu diesen Bedenken gehörte die Gefahr der Anmaßung, dass Menschen genug über die enorme Vielfalt der tatsächlich existierenden Literaturen in all ihren Eigenheiten wissen könnten. Diese Sorge weist kritisch auf die Arroganz hin, die einige dieser Ansätze mit sich bringen, ebenso wie die ungeprüfte Annahme, Menschen könnten durch das Lesen von Übersetzungen alle notwendigen Nuancen erfassen. So entsteht die Gefahr, dass die Heterogenität der verschiedenen Literaturen und ihrer unterschiedlichen Sprachwelten verloren gehen könnte und ihr Erscheinen im Schaufenster eines etablierten Kanons der Weltliteratur ihre Integrität faktisch untergräbt.

Nun habe ich zwar zwei wichtige Probleme vorgestellt, aber vielleicht muss keiner der Punkte das Todesurteil für ein produktiveres, umfassenderes Verständnis von Weltliteratur sein, sowohl in Bezug darauf, was sie ist, als auch darauf, wie sie gelesen wird. Vielleicht lassen sich die Grenzen des individuellen Wissens durch Kollaborationen mit andern und den Austausch mit Expert:innen aus verschiedenen Kontexten abmildern. Vielleicht ist dieser vermittelnde Zugang trotz aller Übersetzungsverluste konstruktiver für den strukturellen Wandel, als Literaturen anderer Sprachen überhaupt nicht zu lesen – obwohl das Erlernen anderer Sprachen natürlich der löblichere Weg bleibt.

Um auf Tagore und seinen Vortrag über Vishwa Sahitya zurückzukommen: Die Wahl seines Themas, gibt sofort Aufschluss über Tagores implizite Ablehnung der „vergleichenden Literatur“, über die er eigentlich einen Vortrag halten sollte. Das von ihm beschriebene Verständnis von Vishwa Sahitya widerlegt Diskurse des Vergleichs und von literarischem Besitztum. Literatur ist ihm zufolge nicht das Eigentum eines Individuums oder einer Nation. Für Tagore gehört sie von Natur aus zur „Welt“ und handelt von der Welt. Er bemerkt: „So wie die Welt nicht aus meinen Feldern besteht, die mit deinen und denen von anderen zusammengerechnet werden – die Welt so zu sehen, zeugt von einer eher einfachen Herangehensweise – so besteht Literatur auch nicht aus meinen Werken, die zu deinen und denen von anderen dazugerechnet werden.“ Tagore stellt die Angemessenheit einer additiven Denkweise in Bezug auf die Zusammensetzung eines Weltliteratur Kanons in Frage und lehnt wiederholt die darin bestehende kompetitive Logik und Sprache ab. Er distanziert sich davon, dass in der vergleichenden Literatur Texte implizit in einzelne Einheiten geteilt werden, und auch davon, dass Vergleiche wiederholt zur Hierarchisierung von Literaturen geführt haben.

Literatur so zu verstehen, wie Tagore sie beschreibt, macht es unmöglich westeuropäische und nordamerikanische Kategorien für Literatur als universell darzustellen – also, die Kategorien, die zu oft zu der Schlussfolgerung geführt haben, dass eine eurozentrische Art des künstlerischen Ausdrucks „überlegen“ sei, und nur Werke, die diesen ästhetischen „Standards“ ähneln, als ebenbürtig gelesen werden können. Das Denken über Weltliteratur in Tagores Sinne zu hinterfragen, könnte ein produktiver Ansatz sein, um nicht nur die Kategorie um Stimmen zu erweitern, sondern auch neu zu verstehen, wie diese Stimmen gelesen und interpretiert werden. Dieser Wunsch, eurozentrische Modi der Konstituierung von Wissen und Ästhetik zu kritisieren, spricht viele der Ziele an, die auch in den Postcolonial Studies verfolgt werden. Vielleicht würde eine postkoloniale Weltliteratur genau das anstreben.

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