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Afropolitismus als Sackgasse: Brian Chikwava

Dieser Essay ist der Dritte einer vierteiligen Serie zu Afropolitismus und Literatur. Der Begriff Afropolitismus setzt sich aus Afrika und Kosmopolitismus zusammen. Menschen afrikanischer Herkunft, die heute hier und Morgen dort leben, prägten diesen Begriff, um ihren mobilen Lebensstil und die daraus resultierende Kreativität und politische Haltung zu beschreiben. Mit dem Streben nach einer radikalen Offenheit schaffen Afropolit*innen vielfältige, kreative Visionen, in denen Menschen afrikanischer Herkunft überall gleichberechtigt dazugehören – auch in Europa.

Der simbabwische Autor Brian Chikwava lebt in London. In der Hauptstadt Großbritanniens spielt sich auch die Geschichte seines 2009 veröffentlichten Romans Harare North ab. Im Gegensatz zu Taiye Selasi und Achille Mbembe, die Sie in den ersten beiden Essays dieser Reihe kennen lernten, hat Brian Chikwava keine theoretische Abhandlung zu Afropolitismus verfasst. Doch Chikwavas Roman Harare North wurde im Zusammenhang mit Afropolitismus von Akademiker*innen viel diskutiert. Sie sind sich uneins: Kann überhaupt eine Figur des Romans als afropolitisch verstanden werden? Meiner eigenen Ansicht nach, wird die vorsichtig wachsende afropolitische Praxis des Erzählers im Roman im Keim erstickt. Grund dafür sind hauptsächlich strukturelle Barrieren, die das Fehlen von Privilegien und die daraus resultierende Benachteiligung deutlich verstärken.

Erzählt wird Harare North von einem namenlosen, jungen Mann, der aus Simbabwe nach London flüchtet. Er kommt aus armen Verhältnissen und gehörte bevor der Roman beginnt der militanten Jugendorganisation Green Bombers an, die das Regime von Präsident Mugabe unterstützte. Nachdem der Erzähler mutmaßlich – es wird nicht ganz klar – in einen Mord verwickelt war, kann er der Polizei nur mit einem hohen Bestechungsgeld entkommen. Dieses Geld leiht er sich. Mit seiner Flucht nach London plant er, seine Schulden schneller begleichen zu können – dort verdient er sicher mehr – und im Anschluss sein Leben in Simbabwe wie gewohnt fortzuführen. Doch es kommt ganz anders.

Der Erzähler findet sich in dem neuen Londoner Umfeld nicht gut zurecht. Er erhält kein Asyl und darf offiziell gar nicht arbeiten. Er sucht zunächst Unterstützung bei seinen Verwandten, die schon länger in London leben. Doch bei denen fühlt er sich unwohl. Der Erzähler beschreibt seine Verwandten als zu Englisch. Er nennt sie „lapsed Africans“, denn in seinen Augen haben sie ihre afrikanischen Wurzeln vergessen. Außerdem gefällt ihm nicht, dass sie ihn ständig für sein Verhalten und seine politischen Ansichten kritisieren. Also beschließt der Erzähler zu einem simbabwischen Freund nach Brixton zu ziehen. Der scheint ihm selbst ähnlicher zu sein – in den Worten des Erzählers ist er immer noch ein „original Native“, also immer noch afrikanisch, obwohl der Freund wie seine Verwandten schon länger in London lebt.

In der akademischen Welt, gibt es vermehrt Stimmen, die die „lapsed Africans“ als Afropolit*innen verstehen. Sie gehören der Mittelschicht an und bewegen sich mit relativer Leichtigkeit in dem neuen Kontext. Chikwava selbst stimmt in einem Gespräch mit zwei weißen dänischen Wissenschaftlerinnen zu. Tatsächlich können die „lapsed Africans“ entspannter in London leben, da sie eine Arbeitserlaubnis haben und damit eine stabilere finanzielle Lebensgrundlage. Doch gleichzeitig stehen sie unter dem ständigen Druck sich zu assimilieren und nicht negativ aufzufallen. Somit sind sie genauso in einem entweder-oder-Denken gefangen wie der Erzähler. In dem Roman scheint es zunächst nur entweder Assimilation und Erfolg oder Nichtanpassung und Scheitern zu geben. Meiner Meinung nach erschaffen diese „lapsed Africans“ also keine afropolitische Position, die die Verhandlung von verschiedenen Kontexten, Einflüssen und Lebensweisen ermöglicht.

Die Position des Erzählers wird in Diskussionen über Harare North häufig sofort als natürlich nicht afropolitisch deklariert. Er denkt nationalistisch, hat eigentlich gar keine Lust, woanders zu Leben, die Reise ist nur Mittel zum Zweck. Doch bei genauem Lesen, gibt es einige Momente, in denen er beginnt, die rigiden Positionen von „original native“ und „lapsed African“ zu hinterfragen. In seiner eigenen grammatikalischen Logik stellt er fest: „It is important to use your eyes, your ears and mouth if you is wanting to catch culture.” (147) Obwohl es dem Erzähler wichtig ist, afrikanisch zu bleiben, drückt diese Haltung ein Interesse aus, Verständnis für den neuen Kontext zu Entwickeln. Dieser Moment der Offenheit und der Erkenntnis, dass Lernen und Reflexion ihn weiterbringen werden, lese ich als einen aufkeimenden afrikanischen Kosmopolitismus.

Während dieser Veränderung des Erzählers, fragt er sich, was es bedeutet ein Afrikaner in London zu sein. Bei einem Kulturfestival im Londoner Southbank Centre verschwimmt seine Kategorie von „lapsed African“ mit Klassenzugehörigkeit. Er beobachtet afrikanische Musiker*innen, die viele verschiedene, bunte afrikanische Kleider tragen und sich sogar während ihrer Auftritte mehrmals umziehen. Sie bezeichnet er als reiche Leute, die ihre afrikanische Herkunft nur oberflächlich zur Schau stellen. Er bringt sich selbst in Verbindung mit einem Musiker aus Kinshasa, der unförmige Second-hand Kleidung trägt. Tatsächlich kritisiert der Erzähler also den Unterschied, den Geld macht und zwar auch, wenn es um Zugehörigkeit und anderswo Fußfassen geht.

Ich verstehe die afropolitische Position als eine, die zwischen den Extremen liegt, also zwischen „lapsed Africans“ und „original Natives“. Der Erzähler beginnt für einen kurzen Moment sich mit seinem Hinterfragen und Beobachten in diese Richtung zu entwickeln, wird dann aber von den äußeren Umständen bezwungen. Seine vorsichtig wachsende, fast schon afropolitische Offenheit hilft ihm letztendlich nicht weiter. Als Migrant ohne Aufenthaltsgenehmigung begegnen ihm derartige Restriktionen in London, dass kein Raum bleibt, in diesen Kontext in irgendeiner Weise zu manövrieren. Herausgerissen aus seinem vertraute Umfeld findet sich der Erzähler ohne Chancen und Möglichkeiten in einer Welt, die ihn ablehnt, die er trotz seiner Versuche nicht versteht.

Der Erzähler wohnt mit anderen simbabwischen Migrant*innen in einem Haus in Brixton und zahlt wöchentlich Miete an einen der Mitbewohner, bis er erfährt, dass sie das Haus eigentlich besetzen und gar nicht legal bewohnen. Geld verdienen kann er nur illegal. Er kann sich auf dem Bau für einen Stundenlohn von £ 2,50 ausbeuten lassen. Die andere Option, die als gängiger Arbeitseinstieg für simbabwische Migrant*innen vorgestellt wird, ist die traditionell weibliche Pflegearbeit. Aber der Erzähler möchte auf gar keinen Fall ein sogenannter British Buttocks Cleaner (etwa: britischer Po-Abputzer) werden. Er empfindet diesen Job als erniedrigend. Letztendlich hat er keine Energie mehr für nichts und landet in der Obdachlosigkeit. Es wird deutlich, dass Geld – und eine häufig damit verbundene Klassenzugehörigkeit – Menschen Spielraum gibt. Sein Fehlen macht die Entwicklung eines afropolitischen Lebensentwurfes schier unmöglich.

Chikwavas Roman verdeutlicht, dass es Orte gibt, die besonders einengend sind, wie das London, dass er erschafft. Orte, aber auch die (Un-)Freiwilligkeit der Reise, Kultur und Klassenhintergrund nehmen Einfluss auf die Modalitäten von Afropolitismus. Harare North trägt wichtige Aspekt zu den Debatten rund um Afropolitismus bei, indem es auf mögliche Gründe für das Scheitern oder Nichtzustandekommen von Afropolitismus verweist. Einerseits machen es sein nationalistisches Denken und der rechtliche Ausschluss in Europa extrem schwer für den Erzähler einen Afropolitismus von unten zu entwickeln. Andererseits scheint es seinen Verwandten ebenso verwehrt zu sein, eine dynamische, afropolitische Alternative zu entwickeln, da sie zu eifrig ihre eigene Kultur abgeben und sich in die Assimilation zwingen lassen. Ein Standortwechsel ermöglicht zwar eine Art der Weltgewandtheit in allen Charakteren, doch Chikwavas Roman zeigt eindrücklich welche Herausforderungen ein neuer Kontext mit sich bringt.

Für weitere Einblicke in afropolitische Perspektiven finden Sie im August 2020 noch einen vierten und letzten Essay zu dieser Thematik.

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